Netzkolumne: Daten-Hoarding:15 000 ungeöffnete E-Mails

Netzkolumne: Daten-Hoarding: Werbung für Google Cloud Services in New York: Digitale Unordnung.

Werbung für Google Cloud Services in New York: Digitale Unordnung.

(Foto: Richard B. Levine/imago images)

Unser Autor kann digital nichts wegwerfen. Jetzt kämpft er verzweifelt mit dem Limit seines Cloud-Speichers.

Von Michael Moorstedt

In einfacheren Zeiten, also so etwa Mitte der Nullerjahre, entwarfen vom minimalistischen Design der Apple-Produkte berauschte Lifestylepropheten und Zukunftsanalysten einen neuen Typus Mensch. Blätterte man in ihren Pamphleten und Reporten, sah man dann eine Art futuristischen Zen-Mönch, der zum Leben nicht viel mehr benötigt als eben seinen iPod, einen schwarzen Rollkragen-Pulli und vielleicht noch eine mit grobem Leinen bezogene Matratze. Der frei ist von physischen Datenträgern und dem Chaos, das sie mit sich bringen. Um es kurz zu machen: Die Trendforscher haben sich mal wieder geirrt. Die Unordnung ist immer noch da. Sie ist nur unsichtbar geworden, hat sich nur in digitale Sphären verlagert.

An dieser Stelle muss ein Bekenntnis folgen: Im Postfach des Autoren liegen etwas mehr als 15 000 ungeöffnete E-Mails. Lange Zeit ließ sich gut damit leben. Vor knapp einem Jahr fing das Dilemma an. Da gab Google bekannt, ab sofort sämtliche Fotos in die frei verfügbaren 15 Gigabyte an Cloud-Speicher mit einzuberechnen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Unternehmen die Politik des unendlich frei verfügbaren Speichers beendete. Immerhin gab Google in der letzten offiziell verfügbaren Statistik von Ende 2020 an, dass auf seinen Servern mehr als vier Billionen Fotos und Videos lagern. Und jede Woche kämen knapp 28 Milliarden neue hinzu.

Im Stil eines Inkasso-Unternehmens verschickt das Unternehmen nun in regelmäßigen Abständen Warnhinweise: "Dein Speicherplatz ist fast vollständig belegt und du empfängst möglicherweise keine neuen E-Mails mehr." Das ist heutzutage eine handfeste Drohung. 97 Prozent, oder um genau zu sein 14,67 GB an Daten sind es momentan.

Seitdem befinde ich mich einer Abwehrschlacht. Hier und dort lösche ich immer wieder mal 200 Nachrichten, aus längst vergangenen Jahren. An einem Tag waren es sogar mehr als 3000. Eine fast schmerzhafte Entscheidung, eine Quasi-Lobotomie. Doch der in Signalrot gefärbte Fortschrittsbalken am unteren Ende der Seite, der die Kapazität anzeigt, will einfach nicht schrumpfen.

Messies gibt es auch im Digitalen - man sieht nur die Unordnung nicht

Der Begriff des digitalen Hoarding wurde zum ersten Mal vor etwa sieben Jahren benutzt. Damals berichtete ein niederländisches Psychologen-Team von einem Mann, der täglich mehrere Tausend digitale Fotos aufnahm. "Er hat die gespeicherten Bilder nie angesehen, war aber überzeugt, dass sie in der Zukunft von Nutzen sein würden", schrieben die Autoren. Heutzutage hat der Glaube, dass wir online unendlich viel speichern können, uns alle zu Information-Hoardern gemacht.

Nachdem die Menschen die physischen Einschränkungen für überwunden hielten, speichert man nun einfach alles, was auch nur im Entferntesten von Interesse sein könnte. Aus der Angst, etwas zu löschen, das man später vielleicht noch gebrauchen könnte, entwickelt sich ein Datenwust. Dabei handelt es sich nicht nur um schlechte Angewohnheiten. Stattdessen ist der Speicherfetisch Ausdruck eines sich verändernden gesellschaftlichen Umgangs mit Informationen. Postfach-Hygiene dagegen ist eine Kulturtechnik, die man mühsam erlernen muss.

Man könnte nun das Problem ganz einfach beheben, indem man ein paar Euro für mehr Speicher ins monatliche Budget aufnimmt. Dumm nur, dass die Menschen ja noch immer dazu erzogen sind, zu glauben, dass Dienstleistungen im Internet nichts kosten dürfen. Nicht zuletzt markieren das Erreichen einer persönlichen, kostenlosen Speichergrenze und die Notwendigkeit, für mehr Platz zu bezahlen, egal wie billig es ist, einen schmerzhaften Wandel in der Wahrnehmung. Als spätkapitalistisch sozialisierter Mensch muss man heutzutage anerkennen, dass nicht nur die Möglichkeit besteht, dass im Supermarkt das Mehl- oder Ölregal leer bleibt. Sondern, dass auch die "Cloud" doch nur eine weitere endliche Ressource ist, wenn auch global über Datenbanken verteilt.

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