Das war die BRD (6):Der Reisebürosonderzug

Hinter Harburg durften die Kinder ihre Rucksäcke öffnen und fanden dort ein kleines Geschenk. Erst Pixi-Bücher, später Donald-Duck-Sonderhefte. Zuerst war es Donald-Duck-Sonderheft 8, "Familie Duck auf Nordpolfahrt". Das ist die Geschichte mit der berühmten introspektiven Sequenz.

DIEDRICH DIEDERICHSEN

(SZ vom 25.01.2001) - Wenn man sich an die BRD erinnert, dann muss man sich an das erinnern, was Restfaschismus und schon beginnender Konsumismus gemeinsam haben, wo sich fordistisch organisierte Disziplinarkultur und schon postfordistische Lockerungen und Zwangsflexibilisierungen begegnen. Der Restfaschismus läpperte langsam aus, und trotz Wirtschaftswunder kamen Hedonismus und Freizeitkultur nur schleppend und vor allem nicht als direkter Gegensatz in Gang. An die lange historische Koexistenz von Disziplinarkultur und eines sich langsam aus all dem historischen Dreck herausschälenden Willen zum Genießen erinnere ich mich als Rahmen einer glücklichen Kindheit, als historisch-spezifische Dialektik von Glück und Angst: diese langsame Rückkehr eines zwar noch furchtsamen, aber doch spürbaren Eigensinns des Genusses. Unabhängig von allen großen historischen grusligen Kontinuitäten, die ich nur ahnen konnte, war es die Kolonne der Sonderzüge, die sich mit diesem Aspekt von BRD verbindet.

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Die Deutschen auf Nordpolfahrt. Auch das waren Freuden des Wirtschaftswunders

Diese Sonderzüge bildeten eine Kontinuität von westdeutscher Nachkriegs- zur Vorkriegszeit. Das Organsieren von Sonderzugeinheiten, sei es zu KdF-Reisen, sei es zu den Konzentrationslagern, war das Rückgrat des Nationalsozialismus, hier erkennt man das Gemeinsame von Faschismus und Fordismus. In Claude Lanzmans Film "Shoah" sieht man immer wieder überwucherte Bahngleise. Die Interviews, die man nie vergisst, spielen immer wieder vor der Kulisse dieses Eisenbahnwesens. Die Menschentransporte der Nazis rollten auf Schienen, die irgendwann auf den heute verlassenen Bahnhöfen im Osten endeten.

Die Reisebürosonderzüge, die in den fünfziger und sechziger Jahren einen entscheidenden Teil des deutschen Massentourismus bewegten, bestanden in der Regel aus Liegewagen mit je sechs Personen pro Abteil. Durch einen Trick schaffte es unsere vierköpfige Familie meistens, allein in einem Sechser-Abteil zu bleiben. Hinter Harburg durften die Kinder ihre Rucksäcke öffnen und fanden dort ein kleines Geschenk. Um Ruhe und Entspannung einkehren zu lassen, gab es auch etwas zu lesen. Erst Pixi-Bücher, später Donald-Duck-Sonderhefte. Zuerst war es Donald-Duck-Sonderheft 8, "Familie Duck auf Nordpolfahrt". Das ist die Geschichte mit der berühmten introspektiven Sequenz. Auf acht Bildern wird die dynamische Entstehung von Donalds Gewissensbissen erzählt, nachdem er seinen verhassten Vetter Gustav mit einer gefälschten Schatzkarte an den Nordpol gelockt hat. Donald findet keinen Schlaf, geht nachts an den Kühlschrank, stellt sich allein am summenden Kühlschrank mit einem Sandwich in der Hand immer schrecklichere Gefahren vor, die Gustav drohen - während er es so gemütlich warm und versorgt hat.

Viele Stunden später, irgendwo hinter Göttingen, wurde einem die Zonengrenze gezeigt: So nahe stehen diese beiden Höfe, und doch können die Menschen nie zueinander. Jedes Abteil hatte einen Lautsprecher, aus dem jahrmarktöses Orgeljazzgedudel drang. Dann wieder machte der Reiseleiter sonore Ansagen: die Hauptgerichte des heutigen Mittagessens. Legendär ist die mit besonderem Brio angepriesene Beilage "Butterkartoffeln". Man hatte sich - wie es heute noch in den letzten schönen Speisewagen der Welt, nämlich in denen der Nachtzügen der spanischen RENFE üblich ist - eine Reservierung für die erste oder die zweite Serie besorgt und ging dann in den Speisewagen, wo es nur feste Menüs gab. Ein weiterer Höhepunkt.

Es dämmerte meist so gegen Karlsruhe. Dieser Ort mit seinem aus meinem Lieblingsbuch "Giganten der Schiene" bekannten Hauptbahnhof war schon Süden. Die Schweiz, deren exotische Bahnhofsschilder wie "Biel / Bienne" man nur sah, wenn man nachts aufwachte, war dann schon richtig weit weg und vielversprechend fremd. Aufwachen in Avignon. Nun sollte noch ein ganzer langer Reisetag durch Südfrankreich und Nordspanien folgen. Man war auf diesen Reisen in einem anderen Universum, immer leicht euphorisiert, wackelte einen halben Meter über der Erde durch Europa. Kam man nach 36 Stunden am spanischen Urlaubsort an, schwankten noch tagelang die Koordinaten des Fussbodens, von den europäischen Schienen durchgeschüttelt. Der Gleiskörper hatte noch eine Körperlichkeit.

Manchmal nahmen wir auch nicht den Sonderzug, sondern den Hispania-Express. Der verkehrte damals zwischen Kopenhagen und Port Bou / Barcelona. Die Vorstellung, dass die anderen Kinder schon eine Nacht hinter sich hatten und sich subjektiv schon im Süden fühlten, machte mich glücklich. Doch im Gegensatz zum Regelzug, zu dem jeder jederzeit zusteigen konnte, blieb der Familienfriede im Sonderzug ungestört. Niemand würde irgendwelche Alltagsgeschäfte in die geschützte Welt hineintragen. Statt dessen konnte man, wenn es dunkel wurde, ausgucken und sich fragen, ob hinter erleuchteten Fenstern andere Kinder wohnen und nach den Zügen ausgucken, die an ihren Fenstern vorbeifahren. So wie wir das täten.

Mit zwanzig hat man die Kinderträume noch nicht überwunden, und so kam es, dass ich bei der Sonderzugbetriebsgesellschaft in Hamburg-Stellingen anheuerte und mein Studium mit zwei Touren pro Woche finanzierte. Die langen Fahrten gingen am Nachmittag los, erreichten am Mittag Zielorte wie Rijeka, Koper, Venedig, Pesaro oder Port Bou und brachten einen am Morgen des dritten Tages nach Hause; die kürzeren führten nur nach Salzburg oder Zell am See, und wer echtes Pech hatte, musste nach Ruhpolding oder Oberuhldingen am Bodensee.

Mir ersetzte dieser Job die Bundeswehr und das Arbeitszimmer. Im Betreuerabteil las ich auf einer einzigen Tour das zweibändige "Revolution und Krieg in Spanien" von Broué und Temime durch. Nachts, wenn die Rupis (Kurzwort für die schutzbefohlenen Touristen, angeblich von "Rucksack-Piraten" oder dem beliebten Zielort der Anfangstage, Ruhpolding, abgeleitet) schliefen, traf man sich in einem Dienstabteil und trank Personalbier. Dann ergingen sich die schüchternen Studenten und die gesetzten Fahrensleute in Sex-Anekdoten. Wilde Sachen. Ja, ficken in der kleinen Koje, wo die Decken gestapelt waren, mit willigen Weibern, die nach Süden fuhren. Das andere Thema war das Trinkgeld. Prinzipiell galt, bei Twen Tours gab es kein Trinkgeld aber Sex, bei Familienreisen wie Hummel keinen Sex aber Trinkgeld. In Wahrheit gab es natürlich nie Sex und immer Trinkgeld.

Zentrale Aufgabe war es beim Einsteigen, den Reisenden ihre Koffer abzunehmen, auf der so genannten Plattform an der Wagentür zu stapeln und anschließend, wenn der Zug fuhr und die Rupis in ihren Abteilen Platz genommen hatten, ihnen ihre Koffer zu bringen und sie zu verstauen - jeder hatte einen Aufkleber mit Platz- und Wagennummer auf seinem Gepäckstück anzubringen. Nur durch diese Organisation war der Einstieg in den kleinen Badeorten wie Rovereto am Gardasee bei kurzem Aufenthalt zu schaffen, wo die Hotelangestellten mit riesigen Karren an den Wagen standen, von denen sie die Koffer uns Betreuern zuwarfen, während die Rupis ohne Koffer einstiegen. Doch trotz aller generalstabsmäßiger Planung und Organisiertheit des Massentransportes kann es der Deutsche nicht haben, wenn man ihm den Koffer wegnimmt. Es mangelt ihm zwar nie an Einsicht in die höheren Notwendigkeiten der Massendisziplin, aber der Trieb zum privateigenen Koffer wurde in den siebziger Jahren immer stärker. Und so reckten sie verzweifelt ihre Hälse nach hinten, wo der teure Koffer ihrer Aufsichtspflicht harrte, und brüllten einem in Gesicht: "Der braune da unten ist meiner!"

Wenn man sie dann schließlich untergebracht hatte und die ersten Bierbestellungen aufnahm, die Betten machte oder die Frühstücksbuchungen entgegennahm, dann konnte man auch 1977 noch zählen, wie viele häßliche Deutsche ihren tausendjährigen Spruch bringen würden: "Junger Mann - oder ist das gar kein junger Mann, sondern ein Mädchen, kann man bei den langen Haaren gar nicht so genau sagen, höhö." Dieses Problem löste bald darauf die Punk-Bewegung, nicht aber das der einsamen oder unverstandenen Männer, die gegen zehn Uhr im Dienstabteil auftauchten, um sich therapieren zu lassen: meine Frau versteht mich nicht, haben Sie Lust auf einen Bauernskat? Oder sie wollten von unserem Personalbier, das es in gemütlichen braunen Flaschen gab, deren Verschluss man an den Abteilfenstern öffnete, während im freien Verkauf nur Dosen zur Verfügung standen, die irgendwie nicht skatmäßig genug aussahen.

Nach einer solchen Rovereto-Tour hatte ich jedenfalls einen Nervenzusammenbruch. Ich kam in Hamburg an, trank einen Kaffee in meiner Wohnung, legte eine Platte auf und bekam dann einen Heulkrampf, der nicht mehr aufhörte. Danach habe ich mich dann lieber von der Firma Elite Konstruktionen an Hamburger Baustellen und Dachfensterhersteller vermieten lassen, als deutsche Urlauber zu betreuen. Leute, die heute solche Jobs machen, müssen natürlich mit den spaßbefreiten Individualirren noch ganz andere Sachen durchstehen. Im Reisebürosonderzug erlebte aber die durchdisziplinierte, spätfaschistisch geprägte Generation die ersten Freuden des Wirtschaftswunders und der mediterranen Lockerungseffekte. Der Reisebürosonderzug gehörte zu einer Kultur der Kern-BRD, der späten Fünfziger bis zu den frühen Achtzigern. Die Deregulierung des Luftverkehrs machte ihr endgültig den Garaus, der Typus des Twen-Tours-Reisenden passte aber schon damals nicht mehr ganz in ein Ritual, bei dem man seinen Koffer beim Einstieg einem livrierten Studenten überlässt, der ihn kurz darauf im Abteil verstaut.

Am Abend dieser Tage wärmte sich der entnervte Student mit seinen Kollegen im Dienstabteil und tauschte die Legenden der Sonderzug-Pagen aus, während die Bischofststadt Fulda oder Eschwege-West in ihrer ganzen metaphysischen bundesrepublikanischen Banalität durchs Fensterbild rumpelten. Geschichten wie die von dem blutigen Kollegen, der im LSD-Rausch einen Rupi nach dem anderen unter einem Vorwand zur offenen Wagentür geführt und hysterisch kichernd aus dem Zug gestoßen haben soll. Oder von dem durchgeknallten Reiseleiter, der nachts um vier die Rupis mit einer Durchsage im sonoren Reiseleiterton weckte. "Meine Damen und Herren, achten Sie bitte darauf, dass Sie sich in den richtigen Kurswagen aufhalten. Beim nächsten Halt wird der Zug geteilt. Der vordere Zugteil fährt dann nach Auschwitz, der hintere nach Buchenwald." Einige Älteren kannten noch den Namen dieses Mannes. Nach einer kurzen Beurlaubung und Verwarnung soll er in den Sechzigern noch einige Jahre im Dienst gewesen sein, hätte so auch mich und meine Familie erschreckt haben können.

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