"Das schweigende Klassenzimmer" in der SZ-Cinemathek:Zwei Minuten stummer Protest

Kinostart - 'Das schweigende Klassenzimmer'

Zwei Minuten Schweigen bringen der ostdeutschen Abiturklasse 1956 Riesenärger ein.

(Foto: dpa)

"Das schweigende Klassenzimmer" von Lars Kraume ist eine Versuchsanordnung über Zivilcourage im Kalten Krieg: Ein zutiefst aktueller Film über den Moment der Politisierung des Einzelnen im großen Staatengetriebe.

Von Annett Scheffel

An einem Morgen im Herbst 1956 ist es still im Klassenraum der Oberschule in Stalinstadt. Der Geschichtslehrer fragt nach der Haltung der SPD zum Ersten Weltkrieg 1918. Aber anstatt die passende Antwort vom kühnen Kampf gegen den Imperialismus zu geben, schweigen die Schüler. Blicke zur Uhr - zwei Minuten stummer Protest. Es ist eine jugendliche Kraftgeste und Ausdruck ehrlicher Anteilnahme für die Toten des Ungarischen Volksaufstands. Die spontane Verschwörung einer Gemeinschaft in einem Staat, der die Gemeinschaft angeblich über alles stellt.

Wie aus dieser spontanen Solidaritätsbekundung für die Schüler bitterer Ernst wird, davon erzählt "Das schweigende Klassenzimmer". Nach "Der Staat gegen Fritz Bauer" über den Generalstaatsanwalt Bauer, der in den Fünfzigerjahren den Auschwitz-Prozess auf den Weg brachte, entwirft Regisseur Lars Kraume erneut eine Versuchsanordnung über Zivilcourage an einer historischen Fußnote entlang.

Sein Film basiert auf einem Buch von Dietrich Garstka, in dem er die Erinnerungen an seine Abiturklasse im brandenburgischen Storkow schildert. Kraume verlegt die Handlung in die sozialistische Planstadt Stalinstadt, heute Eisenhüttenstadt. Wie drüben im Westen herrscht auch hier, in der Druckkammer des noch jungen DDR-Staates, eine nervös-paranoide Grundstimmung: Zu frisch sind die Eindrücke der NS-Zeit, als dass man seinen Bürgern über den Weg trauen würde.

Und so bekommen die Schüler die ganze Härte des Systems zu spüren, das in ihrer Schweigeminute eine konterrevolutionäre Aktion sieht und ohne Umschweife die Daumenschrauben ansetzt. "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns", diagnostiziert der Direktor, bevor erst eine herrische Schulrätin (Jördis Triebel), dann der Volksbildungsminister persönlich (Burghart Klaussner, der auch Fritz Bauer verkörperte) versuchen, den "Rädelsführer" zu isolieren. Wer nicht kooperiert, soll vom Abitur ausgeschlossen werden. Ausgerechnet die Bildungschance - das sozialistische Versprechen einer besseren Zukunft - wird zum Druckmittel des Arbeiterstaates gegen seine Kinder.

Kraume versteht es, die persönlich-politischen Grabenkämpfe der Zeit zu verdichten. Um die komplexen historischen Gegebenheiten auf zwei Filmstunden zu komprimieren, verlegt er sich auf scharf konturierte Charaktere. Jede der Figuren hat, ausgestattet mit unterschiedlichen biografischen Beweggründen, klare narrative Aufgaben. Da gibt es diejenigen, die an den Sozialismus glauben: Der linientreue Erik Babinski (Jonas Dassler) wird von den Ermittlern sogleich als Schwachstelle im Schülerkollektiv ausgemacht. Und es gibt die, die sich arrangieren: Leonard Scheicher spielt Theo Lemke als leichtfüßigen Spitzbuben, der sich mit einer Notlüge aus der Angelegenheit herauswinden will.

Mehr inszenatorischer Wagemut, weniger melodramatische Schwere

Sein bester Freund Kurt Wächter (Tom Gramenz) dagegen gehört zu denen, die der Staatsautorität die Stirn bieten. Und schließlich gibt es diejenigen, für die die Gesellschaftsutopie die Mittel heiligt: Florian Lukas gibt den vom Landarbeiter zum Pädagogen aufgestiegenen Rektor Schwarz in einer Mischung aus Idealismus und proletarischem Pragmatismus: Perfekt sei der Sozialismus noch nicht, sagt er zu einem Schüler, "aber für uns issa jut".

Man merkt dem Film an, dass er möglichst viel über das DDR-Leben und seine vertrackten Aushandlungsprozesse erzählen will. Das ist löblich - und zugleich sein größtes Problem. Die Schüler sind entweder Kinder von toten Rotfront-Kämpfern oder von Stahlarbeitern, von strammen Parteifunktionären oder gleich von abwesenden, geflohenen Eltern. Die Situation der Kirche wird kurz gestreift, ebenso wie das Schwulsein in der DDR und der Aufstand vom 17. Juni 1953.

Die Figuren bleiben Vehikel für Kraumes fein recherchierten, aber sehr formalen Plot. Und trotz der starken Darstellung seines jungen Ensembles fühlen sie sich oft genau so an: weniger lebendig als clever abgezirkelt. Allzu offensichtlich ist das Schachbrettmuster, auf dem Kraume in Fernsehfilmmanier seine Protagonisten in Stellung bringt. Mehr inszenatorischer Wagemut - und zum Schluss ein bisschen weniger melodramatische Schwere - hätte dem Film gutgetan. Vor allem, weil Kraume den Stoff richtig gewählt hat. Denn die Geschichte dieser Abiturklasse ist im Kern eine zutiefst aktuelle. Eine, die vom Moment der Politisierung des Einzelnen im großen Staatengetriebe erzählt, dem Moment, in dem das Leben Fragen aufwirft, die sich nicht wie eine Schulaufgabe beantworten lassen.

Das schweigende Klassenzimmer, D 2018 - Regie und Buch: Lars Kraume, nach einem Buch von Dietrich Garstka. Kamera: Jens Harant. Schnitt: Barbara Gies. Mit: Leonard Scheicher, Anna Lena Klenke, Tom Gramenz, Jonas Dassler, Ronald Zehrfeld, Florian Lukas, Jördis Triebel. Studiocanal, 111 Minuten.

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