Süddeutsche Zeitung

Globaler Kino-Erfolg:Spiel ohne Grenzen

  • Fast drei Millionen Kinogänger sahen in Deutschland bis jetzt Bora Dagtekins "Das perfekte Geheimnis". Die Idee des Films geht zurück auf den italienischen Film "Perfetti Sconosciuti"aus dem Jahr 2016 - der Vorlage für 18 Adaptionen rund um den Globus war.
  • Wie kann das sein? Warum scheint dieser Film in Russland genauso zu funktionieren wie in Indien, Ungarn, Griechenland und Russland? Zeit, sich ein paar der Remakes hintereinander anzusehen.

Von Alex Rühle

Ein Abendessen. Drei Paare und ein einzelner Mann. Die Männer kennen sich seit Schultagen. Gefrotzel, Anekdoten, Klatsch. Und dann steht die Idee im Raum: Mensch, wir haben doch keine Geheimnisse voreinander, also los, Handys auf den Tisch. Jeder Anruf wird auf laut gestellt, jede Mail und SMS vor allen anderen verlesen, jedes Foto gezeigt. Wer Einwände gegen das Spiel formuliert, macht sich verdächtig. Ach, warum willst du uns das denn nicht zeigen? Also landen nach kurzem Hin und Her alle Mobiltelefone in der Mitte des Tischs, fast wie Colts in einem Saloon.

Fast drei Millionen Kinogänger hierzulande kennen diese Idee aus Bora Dagtekins Film "Das perfekte Geheimnis", aktuell auf Platz eins der Kinocharts - sehr viele Menschen aus dem Rest der Welt kennen sie aber schon viel länger. Und wissen, wie das heitere Abendessen langsam, aber sicher zu einer Schlachttafel wird - schließlich hat jeder der Beteiligten seine kleinen oder großen Geheimnisse. Und so kann man dabei zusehen, wie all das, was sonst so diskret in diesen Kästchen verwahrt wird, plötzlich unkontrolliert auf die Tischgesellschaft einschießt, am Ende weiß man, dass jedes Klingeln ein ganzes Leben in Schutt und Asche legen kann ...

Das alles geht zurück auf den Film "Perfetti Sconosciuti", der im Februar 2016 in die italienischen Kinos kam und ein Riesenerfolg wurde - hymnische Besprechungen, 31 Millionen Euro Einnahmen, und dann alle Preise, die man überhaupt im dortigen Filmbusiness gewinnen kann. Der eigentliche Erfolg aber stellte sich erst kurz danach ein: Der Film war auf der Berlinale und auf dem Tribeca Film Festival zu sehen, anschließend konnte sich der Regisseur und Co-Drehbuchautor Paolo Genovese nicht retten vor Anfragen nach Remake-Rechten. Mittlerweile wurde oder wird der Film in 18 Ländern adaptiert: Weltrekord. Seit Juli dieses Jahres steht "Perfetti Sconosciuti" im Guinness-Buch, kein anderer Film wurde je so häufig noch einmal gedreht. Zu all den Film-Remakes kommen auch noch mehrere Theateradaptionen, von Israel bis Uruguay, hinzu.

Der italienische Film sollte ein "harter Film, ein schwarzes Porträt der Menschheit" sein

Wie kann das sein? Warum scheint dieser Film in Russland genauso zu funktionieren wie in Indien, Ungarn und Griechenland? In China lief "Kill Mobile" im vergangenen Jahr gleich mit 4000 Kopien an. "Perfectos desconocidos", die spanische Version, gehört zu den zehn erfolgreichsten spanischsprachigen Filmen aller Zeiten. Selbstverständlich gibt es daneben noch eine mexikanische Version gleichen Titels, die ebenfalls aus dem Stand zum Kassenschlager mutierte. In Deutschland setzte Bora Dagtekin mit "Das perfekte Geheimnis" die Erfolgsserie fort, die Weinstein-Studios haben sich die Rechte für die amerikanische Fassung gesichert, wegen Harvey Weinsteins Prozess verzögerten sich die Dreharbeiten, aber 2020 wird man dann auch Charlize Theron bewundern können als Gastgeberin und dünnhäutige Therapeutin im Clinch mit ihrer pubertierenden Tochter und den eigenen Schönheitsidealen.

Also los, Kammerspielvergleich! Vier Fassungen hintereinander - für diesen Text waren es das italienische Original und das französische, südkoreanische und deutsche Remake. "Le Jeu - Nichts zu verbergen" kann man auf Netflix ansehen, "Intimate Strangers" finden alle, die nicht flüssig koreanisch sprechen, mit englischen Untertiteln auf newasiantv.tv, und "Das perfekte Geheimnis" läuft momentan in jedem zweiten deutschen Kino.

Um keine falschen Erwartungen zu wecken, muss gleich dazugesagt werden, dass die deutsche Version einen anderen Charakter hat als die anderen Remakes - und das Original. Paolo Genovese sagt selbst, "Perfetti Sconosciuti" sei ein "harter Film, ein schwarzes Porträt der Menschheit". Das ist nun selbst fast wieder zu schwarz und hart formuliert, sein Drehbuch schafft genau die Balance zwischen Komödie und Strindberg. Während Bora Dagtekin doch eher "Fack ju Strindberg" sagt: "Perfektes Geheimnis" setzt sehr auf die Lacher, ja der ganze Film scheint fast panische Angst vor Einsamkeit und Momenten des ratlosen Verstummens zu haben. Und gerade die machen die anderen drei Versionen so stark.

Im italienischen Original laden die Gastgeber - sie Psychotherapeutin, er Schönheitschirurg - in eine Riesenwohnung in Parioli, einem so zentralen wie gutbürgerlichen Viertel in Rom, sanft ausgeleuchtet wie im Manufactum-Katalog. Auch in Seoul, München und Paris wohnen sie jeweils hoch über der Stadt, auf gefühlt 200 Quadratmetern. Gleichzeitig hat die Grundidee mit den Schulfreunden jeweils den Vorteil, dass man auch weniger Privilegierte dazuladen kann. Ein Schönheitschirurg freundet sich mit Mitte 40 eher selten mit einem Taxifahrer an. Wenn man aber gemeinsam die Schulbank gedrückt hat, wird eben aus dem einen ein Lehrer, aus dem zweiten ein Arzt und der dritte fährt Taxi. So sitzt zwar immer noch kein gesellschaftlicher Querschnitt am Tisch, man schaut aber auch keinem reinen Millionärsklüngel beim Weinverkosten zu.

Nun gibt es natürlich schon mal einen sehr banalen finanziellen Grund für das Interesse so vieler Produzenten an diesem Stoff: "Perfetti Sconosciuti" ist ein Kammerspiel von geradezu aristotelischer Strenge, die Einheit von Ort, Zeit und Handlung könnte - nach einem ganz kurzen Intro - kaum konsequenter durchgezogen werden. Spart natürlich irre Kosten; die paar Außenaufnahmen, um die beiden Gastpaare eingangs in ihrem jeweiligen Alltagskuddelmuddel anzuskizzieren und sie am Ende aus der ganzen Katastrophe wieder in ihr Leben zurückgleiten zu sehen, fallen kaum ins Budget.

Dann ist das Ganze ein Fest für die Schauspieler. Eineinhalb Stunden Großaufnahmen und Mimikspektakel, geschliffene Dialoge, Überdruckkammerspiel, da sagen große Namen gerne zu. Einen weiteren Grund für den globalen Erfolg brachte Gianluca Chakra, Manager der kuwaitischen Produktionsfirma Front Row Filmed Entertainment auf den Punkt, als er verkündete, dass es demnächst auch eine arabischsprachige Version geben wird: "Lügen ist was Universelles."

Vor allem aber hat Paolo Genovese gemeinsam mit seinen vier Co-Autoren ein unglaublich elegantes Drehbuch geschrieben. Da ist so ziemlich alles drin, was uns heute ausmacht. Fast jede Szene hat einen doppelten Boden - in dem dann nach kurzer Zeit auch wieder eine Falltür aufgeht, unter der zuverlässig ein randvolles Fettnäpfchen steht. Wie frisch und pointiert das Originalscript ist, merkt man daran, dass in der französischen wie in der südkoreanischen Version die besten Witze die sind, die man schon kennt - die aber hier auch beim dritten Mal funktionieren. Ein Paar ist frisch verliebt, was eine der beiden lang verheirateten Frauen, die ganz offensichtlich ein Alkoholproblem hat, sagen lässt, na immerhin hat hier irgendjemand am Tisch noch Sex. Deren Mann bittet kurz darauf den siebten Gast, den Lehrer, der alleine kam, die Handys zu tauschen, er erwartet abends stets, räusper, ein Foto einer Bekannten. Das Foto ist eine ziemliche Bombe, so weit, so erwartbar. Durch den Handytausch kommt dann aber vor allem heraus, dass der Lehrer schwul ist. Was natürlich anfangs nur der Zuschauer versteht - die Tischgesellschaft denkt, die sehnsüchtigen Botschaften gelten dem Ehemann der Trinkerin.

Das Essen wird nirgends so viel und so kritisch kommentiert wie in Frankreich

Für das Drehbuch spricht nun, dass man auch in der dritten Version, in Seoul, mit Spannung verfolgt, wie die Freunde reagieren, als sich herausstellt, dass einer von ihnen schwul ist. Wann rutscht der erste auf dem spiegelglatten Parkett der Konventionen aus? Wo blitzt dann eben doch hinter der höflichen Fassade uralter homophober Ekel auf? Und wann erschrecken sie endlich über sich selbst?

Es ist verblüffend zu sehen, wie eng das französische und das südkoreanische Drehbuch am Original bleiben. Probleme zwischen Ehefrauen und Schwiegermüttern scheinen ebenso global verbreitet zu sein wie Sozialneid und Distinktionsfiesheiten (ach, ein Biowein? Und das Preisetikett ist noch dran?). Klar gibt es natürlich feine Abweichungen. Das Essen wird nirgends so viel und kritisch kommentiert wie in Frankreich. Und in der südkoreanischen Version scheint eingangs der Konventionsterror stärker auf den Paaren zu lasten als in den europäischen Remakes, etwa wenn einer der Ehemänner seiner Frau vorwirft, sie verwende zu viel Make-up. Aber wenn es dann ans Eingemachte geht, wenn die Handys eine Lebenslüge nach der anderen bloßlegen und so ziemlich alles auf den Tisch kommt, was für gewöhnlich unter den Teppich gekehrt wird, Schönheitsideale und alternde Körper, Kinderwunsch und Elternelend, dann hat man beim Schauen immer wieder das Gefühl, als würden die Wände zwischen dem Wohnzimmer in Seoul und denen in Rom und Paris verschwinden. Als würde man durch das Gesicht von Bérénice Bejo, die in Frankreich die Therapeutin spielt, hindurch den ungesagten Einsamkeitsschmerz von Kim Ji-soo sehen, ihrem südkoreanischen Alter Ego.

Paolo Genovese sagte kürzlich zu dem sensationellen Erfolg auf dem chinesischen Markt, die Chinesen hätten ihm gegenüber immer wieder betont, dieser Film "spreche genau ihre Sprache, die der Geheimnisse, der Codes, des Ungesagten". Man kann das verallgemeinern: Genau das macht überall die Stärke dieses Films aus. Der Gastgeber sagt am Ende, als alle wieder weg sind: "Wir sind zerbrechlich. Alle." Gerade aus dieser Zerbrechlichkeit gewinnen die Figuren ihre Stärke.

Bora Dagtekin hat einen anderen Weg gewählt. Seine deutsche Fassung ist Komödie durch und durch - aber auch das Konzept scheint zumindest an der Kinokasse aufzugehen. "Das perfekte Geheimnis" ist schon jetzt der erfolgreichste deutsche Film des Jahres.

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Quelle:
SZ vom 23.11.2019/tmh
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