Das Ohr von Vincent van Gogh:Wir müssen einen Schnitt machen

Das Zeug zum Krimi: Ein neues Buch bezweifelt, dass Vincent van Gogh sich selbst das Ohr abhieb.

Bärbel Küster

Kirk Douglas schaut in den Spiegel, in dem sich ein von Angstzuständen zerwühltes Ich zeigt, er ist außer sich, reißt sich vom Spiegel los, die Kamera verharrt, das Nachtcafé erscheint, und aus dem Off ertönt ein schrecklicher Schrei. Vincente Minnellis berühmter Film "Lust for Life" von 1956 zeigt die Schlüsselszene nicht.

Das Ohr von Vincent van Gogh: Kirk Douglas spielte den Wahnsinns-Maler im Film "Lust for Life".

Kirk Douglas spielte den Wahnsinns-Maler im Film "Lust for Life".

(Foto: Foto: Cinetext)

Kirk Douglas und sein Gegenspieler Anthony Quinn als Paul Gauguin setzten dem Drama, das sich zwischen den beiden Malern in Arles im Gelben Haus am Vorabend des Weihnachtstages 1888 entspann, dennoch ein Denkmal. Kein Maler der verkannten klassischen Moderne, von den Impressionisten bis hin zu den Fauves, keine Lebensgeschichte in Armut gescheiterter Künstler hält ein vergleichbares Zeichen der Hingabe an das Künstlertum bereit wie Vincent van Goghs verstümmeltes Ohr. Zugleich fokussierte es die Rezeption moderner Kunst auf eine bis zum Wahnsinn gesteigerte Emotionalität.

Die Sache mit dem Absinth

Der Film folgt wie ein Großteil der Forschung seit fast 100 Jahren, was den Ablauf der Ereignisse angeht, den Aussagen Paul Gauguins: Ein Streit über künstlerische Fragen im Gelben Haus, seit Oktober 1888 gemeinsames Atelier, dann ein Wut/Wahnsinns-Anfall Van Goghs und die Tat.

Robert Altmans "Vincent and Theo" von 1989 zeigt sie in einer Splatter-Szene, in der der psychisch erkrankte Van Gogh in einen Blutrausch gerät und sich mit dem Rasiermesser die linke Ohrmuschel abschneidet. Die Zeitungsnotiz, die den Vorfall in der Lokalpresse kurz nach Weihnachten 1888 in Arles bekanntmachte, vermerkte den polizeilichen Protokollen folgend, dass der Holländer in einem Bordell bei einer gewissen "Rachel" sein Ohr mit den Worten abgab: "Bewahren Sie diesen Gegenstand bitte gut auf", bevor er nach Hause verschwand. Am Tag darauf wurde er blutüberströmt in seinem Bett gefunden und ins örtliche Krankenhaus gebracht. Van Gogh überlebte bekanntlich, war danach aber als "Wahnsinniger" abgestempelt.

Rita Wildegans und Hans Kaufmann haben nun mit einer umfassenden Studie Einspruch erhoben gegen diese Version. Ihr Ansatz basiert zunächst auf einer Untersuchung des Mediziners Wilfred Arnold von 1992 über Van Goghs Krankheit: Sie sei nicht in erster Linie psychischer Natur gewesen, vielmehr litten mehrere Mitglieder der Familie an einer Enzymkrankheit, die damals noch nicht bekannt war (AIP), bei der durch Medikamente und Alkohol, schlechte Ernährung und Schlafmangel Wahnzustände, aber auch Lähmungen, Wahrnehmungsstörungen, Krämpfe, Heißhungeranfälle und Süchte nach Terpenen hervorgerufen werden. (Van Gogh stand in dem Ruf, Terpentin zu trinken und seine Farben zu essen.)

Diese Analyse erklärt die Schübe, in denen Van Goghs Krankheit verlief, ebenso wie die Phasen der Klarheit dazwischen. Auslöser für Anfälle war unter anderem jenes zerstörerische Gebräu des Absinthes, von dem Van Gogh umso mehr herunterspülte, je weniger Geld für Essen übrig war.

Wutanfall im Nachtcafé

Das, was Paul Gauguin dem ermittelnden Kommissar und der Nachwelt über den Tathergang glaubhaft vermitteln konnte, ist denkbar widersprüchlich. Neben den Zweifeln, ob man physisch in der Lage ist, sich ein ganzes Ohr mit dem Rasiermesser abzuschneiden, fragen Wildegans/Kaufmann mit Recht: Warum sollte der schwer verletzte Van Gogh mit seinem abgeschnittenen Ohr von zu Hause bis zum Bordell rennen, das einige hundert Meter entfernt hinter der Stadtmauer lag, es dort der Hure übergeben, um dann erst wieder daheim die blutende Wunde, bei der immerhin eine Arterie verletzt worden sein musste, zu stillen? Zumal diese Frau für ihn keine besondere Bedeutung hatte?

Wildegans/Kaufmann bieten nun eine andere Version an: Paul Gauguin entschloss sich, zu Weihnachten nach Paris zurückzukehren; mit kleinem Gepäck und seinem Degen (Gauguin war ein hervorragender Fechter) bewaffnet, verließ er das Haus. Vorausgegangen war vielleicht eine heftige Provokation Van Goghs, deshalb wollte er auswärts nächtigen. Der aufgebrachte Van Gogh, in dessen Phantasie sich die Bedeutung dieser Künstlergemeinschaft bis zur Ich-Konstitution gesteigert hatte, und der in einem seiner Wutanfälle bereits im Nachtcafé ein Glas nach Gauguin geworfen hatte, rannte ihm nach, um ihn zur Umkehr zu überreden, oder auch, um sich zu entschuldigen.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum auch alles ganz anders gewesen sein könnte.

Wir müssen einen Schnitt machen

Bei dem nachfolgenden Streit auf der Straße gerieten Gauguin und Van Gogh unweit des Bordells so aneinander, dass Gauguin den Degen zog und ihm dabei das Ohr abschlug. Der verstörte Van Gogh gab das Ohr dort ab, bevor er heimkehrte, während Gauguin im Hotel übernachtete und erst am nächsten Morgen noch einmal zum Gelben Haus zurückkehrte, wo er vom Kommissar verhört wurde. Van Goghs letzte Worte an Gauguin: "Sie sind schweigsam, und ich werde es auch sein" sind überliefert. Er hat niemals Gauguins Version angezweifelt, sei es, weil er tatsächlich eine totale Amnesie erlitten hatte, sei es, weil es - so vermuten es die Autoren - einen "Pakt des Schweigens" zwischen den beiden Malern gab, mit dem Van Gogh sich wegen der vorausgegangenen Provokationen eine gewisse Mitschuld gab.

Die Autoren unterfüttern ihre Thesen minutiös mit einer Fülle von Briefmaterial, versteckten Hinweisen aus Texten, Skizzen und Werken Gauguins. Hat sich der Künstler mit seinem Gewissen herumgeschlagen, weil sein Degenhieb und seine systematischen Erzählungen vom Wahnsinn Van Goghs diesen in große Verzweiflung und Isolation, letztlich noch mehr in die Krankheit trieben?

Van Gogh wurde ein halbes Jahr danach in eine Anstalt in Saint-Rémy gebracht, erlitt mehrere Anfälle, bevor er sich im Mai 1890 resigniert in Auvers-sur-Oise in die Obhut von Dr. Gachet begab. Am 29. Juli 1890 starb er an den Folgen eines Selbstmordversuches.

Kurz darauf reist Gauguin zum ersten Mal nach Tahiti. In Hiva Oa malte er 1901 Sonnenblumen auf einem Sessel, ein Sonnenblumenstillleben und eine Hommage an Van Gogh - in dessen Mitte prangt eine Blüte, aus der ein Auge unverwandt auf den Betrachter schaut. Für Wildegans/Kaufmann ist dies ein "Kainsauge", das Gauguins schlechtes Gewissen und ein gewisses Schuldeingeständnis ebenso bezeugt wie diverse Notizen und verschlüsselte Zitate.

Der heuchlerische Gauguin

Das Thema und die These, das alles hätte das Zeug zu einem Krimi. Die gesamte Anlage des Buches, Aufbau, Stil und die Beweisführung sind jedoch umständlich und schwerfällig. Auf den ersten 100 Seiten wird der Leser zunächst mit Psychogrammen der Protagonisten versorgt. Eine Anamnese, die zu Ungunsten des heuchlerischen, von sich eingenommenen Gauguin ausfällt, der nach fast einjährigem Werben nur wegen seines notorischen Geldmangels und dem Vorschlag, Theo Van Gogh würde die in Arles gemalten Bilder verkaufen, in die Provence kommt. Vincent dagegen (von den Autoren vertraulich beim Vornamen genannt) steht vor dem Leser als eine ehrlich bemühte arme Haut, dessen Ausbrüche und religiöser Fanatismus sehr zurückgenommen werden.

Dieses Psychogramm ist Voraussetzung für die zentrale Frage, ob man Gauguin für fähig hält, die Tat zu verleugnen und zu verschweigen. In den besten Passagen, die mit der Hinwendung zum besagten Tag und der endlich auf Seite 285 geschilderten neuen Hypothese einsetzen, bringen die Autoren ein dichtes Netz von Beweismaterialien hervor, das spannend zu lesen ist.

Ob man am Ende weiterhin an das Rasiermesser glaubt oder doch vom Degenschlag Gauguins überzeugt ist - die Indizien sind nicht so eindeutig -, es ist erstaunlich zu sehen, auf welch dünnem Eis Myriaden von Wissenschaftlern, Kunstliebhabern und Filmemachern sich bislang bewegten. Andererseits argumentiert die Beweisführung mangels neuer Fakten vor allem moralisch, indem sie nach Schuldgefühlen bei Gauguin sucht. Und so beschleicht am Ende den Leser die Frage, ob es wirklich die Aufgabe der Nachgeborenen ist, in dieser Weise über die Künstler zu richten. Ob Selbstverletzung oder Degenhieb - die Verstümmelung war in jedem Fall ein Ritterschlag, der Vincent van Gogh zu einer gut verkäuflichen Marke des wilden, wahnsinnigen Künstlers machte.

RITA WILDGANS, HANS KAUFMANN: Van Goghs Ohr. Paul Gauguin und der Pakt des Schweigens. Osburg Verlag, Berlin 2008. 300 S., 22,90 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: