"Das Ministerium des äußersten Glücks":Arundhati Roys literarisches Chaos

A DISPLACED MOTHER COMFORTS HER CHILD IN A CHINARI REST HOUSE IN KASHMIR

Eine Frau, die vier Familienmitglieder im Kashmir-Konflikt verloren hat, kümmert sich um ihr Kind.

(Foto: REUTERS)

In ihrem neuen Roman beleuchtet Bestsellerautorin Arundhati Roy den Kaschmir-Konflikt. Streckenweise liest er sich jedoch wie vom Autopiloten geschrieben.

Von Jörg Häntzschel

Als auf Seite 451 von Arundhati Roys neuem Roman Tilo und Musa zusammen schlafen, geht es dem Leser, als sähe er nach 100 Kilometern in einem Tunnel endlich Tageslicht. So dankbar war man selten für eine intime Szene wie diese, die erste des Buchs. Ihr voraus gingen Dutzende, Hunderte Geschichten von Erschießungen und Misshandlungen, Beschreibungen eingeschlagener Schädel, entstellter Gesichter, verdrehter Gliedmaßen, dampfender Blutlachen im Schnee, Fahrten in Militärjeeps zu "Folterzentren", verpissten Kerkern, in einsame Wälder, zu weiteren Grausamkeiten und Tötungen.

Irgendwann geht es einfach nicht mehr. Man verwünscht nicht nur den seit Jahrzehnten währenden Kaschmir-Konflikt, der im Mittelpunkt des Buchs steht, sondern auch Arundhati Roy, die diesen in "Das Ministerium des äußersten Glücks" mit einer aggressiven Insistenz vor dem Leser ausbreitet, bis der sich darin verheddert wie in Stacheldraht. Genau in diesem Moment führt sie endlich Tilo, die ehemalige Architekturstudentin, und Musa, den Untergrundkämpfer, zusammen und erlaubt dem Leser wie den Figuren einmal, wenn auch nur kurz, durchzuatmen.

Roy blieb in Indien und kämpfte als Aktivistin

Roy gelang vor mehr als 20 Jahren mit ihrem Erstling "Der Gott der kleinen Dinge" eine literarische Sensation. Die Kritik rühmte das Buch, sechs Millionen Leser verschlangen es. Roy wurde über Nacht zum Star. Sie hätte sich wie andere in New York, Paris oder London niederlassen und alle paar Jahre ein neues Erfolgsbuch schreiben können. Doch sie blieb in Indien und kämpfte als Aktivistin und Essayistin gegen Hindu-Nationalismus und Staudämme, gegen den Irakkrieg und die Globalisierung.

Wie kehrt man von dort zurück zu einem neuen Roman? Ein neues, lebenspralles Buch hätte, so befürchtete sie wohl, ihren Aktivismus wie ein Hobby aussehen lassen. Ein süffiger, engagierter Roman wiederum hätte sie dem Vorwurf ausgesetzt, den linken Widerstand zugunsten eines Bestsellers auszuschlachten. Und wie würde es ihr gelingen, sich der Umarmung ihrer Fans im Westen zu entwinden, die sie als "Stimme" Indiens verehren, die aber eben auch mitgemeint sind, wenn Roy den globalen Kapitalismus mit seiner Gefräßigkeit geißelt, seine Gleichgültigkeit für Unrecht jenseits von Europa und Nordamerika?

Roy entschied sich für den radikalsten Weg: Sie macht ihr Anliegen nicht nur zum Thema ihres Romans und benützt diesen als noch lauteres Megafon, sie kämpft dort auch mit literarischen Mitteln, selbst gegen die eigenen Leser. Ihr Buch ist geschrieben, um zu überfordern, zu beschämen, zu irritieren, und einen möglichst gnadenlosen Eindruck davon zu geben, was es heißt, in Indien Muslim zu sein oder in Kaschmir für Gerechtigkeit zu kämpfen.

Dass viele ihrer Fans aufgeben werden, weil sie verloren gehen in den Schilderungen des seit Jahrzehnten wuchernden Konflikts oder weil ihnen schlecht wird vom vielen Blut, nimmt Roy in Kauf. Wer nicht den Mumm hat, der Realität ins Auge zu sehen, nicht die Ausdauer, sich darin zu orientieren, soll "Fifty Shades of Grey" lesen.

Erst beim dritten Anlauf findet der Roman auf die Füße

Das Buch beginnt pittoresk mit einer Lebensfeier auf dem Friedhof. Dorthin ist Anjum gezogen, die als der Junge Aftab geboren wurde und auch nach einer Operation zeit ihres Lebens mit dem Mann in ihr Krieg führt. Anjum lebte in einem jener Häuser, in denen Hijras, Transgender-Personen wie sie, in Indien seit Jahrhunderten drittes Geschlecht sein dürfen.

Doch die Nähe bekommt ihr nicht. Erst auf dem Friedhof, wo sie nachts mit aus dem Leichenschauhaus gezapftem Strom alte Vampirfilme anschaut, findet sie ihren Frieden. Erst schläft sie auf Gräbern, dann baut sie sich eine Hütte, schließlich kommt ein Gästehaus hinzu. Ihr Biotop wird bald zum Hafen für Randexistenzen aller Art, darunter ein Mann aus der alleruntersten Kaste, der sich Saddam Hussain nennt, aus Bewunderung für die Tapferkeit, die der Diktator bei seiner Exekution bewiesen habe. Mit ihm, einem ehemaligen Leichenwäscher, Kleinkriminellen und Wachmann, der den Mitgliedern höherer Kasten ihre Kuhkadaver abtransportiert, steigt sie ins Bestattungsbusiness ein.

Ein unschwer zu identifizierendes Alter Ego der Autorin Roy taucht auf

Vom Friedhof führt die Erzählung unvermittelt in eine andere Welt, mit anderen Outcasts: die Gegend um das Observatorium Jantar Mantar, wo Roy uns in das schwindelerregende Wimmelbild einer Antikorruptions-Demo taucht, samt Hungerstreikenden, Müllfahrern, Opfern der Chemiekatastrophe von Bhopal und Verwirrten, aus deren Pamphleten sie seitenlang zitiert. Doch erst beim dritten Anlauf findet der Roman auf die Füße. Vier Studenten lernen sich 1984 an der Universität kennen. Die drei Männer der Clique verlieben sich in Tilo, die einzige Frau, die wir von nun bei ihren wechselnden Beziehungen zu den dreien verfolgen und die zu einer Art Auge des Romans wird. Sie ist unschwer als Alter Ego von Roy zu identifizieren. Nicht nur die Liebe zu Tilo haben die drei jungen Männer gemeinsam: Alle drei sind Jahre später in den Kampf um Kaschmirs Unabhängigkeit verwickelt. Einer ist Journalist und berichtet von dort, einer ist beim Geheimdienst, der dritte ist Musa, der Untergrundkämpfer.

Erst im letzten Viertel des Romans läuft Roy zur alten Form auf. Die Passagen, in denen Tilo und Musa durch die grandiose, wegen der Unruhen menschenleere Bergwelt Kaschmirs streifen, haben eine berückend filmische Qualität, von der Roy bis dahin nur sehr sporadische Proben gab. Auch weiter vorne blitzen immer wieder große literarische Momente auf, doch deren Stärke liegt eher in ihrer bitter-absurden Lakonik. So in der Geschichte von dem toten Steinbrucharbeiter, von dessen Körper beim Verbrennen ein lungenförmiger Klotz übrig bleibt, der sich aus dem Steinstaub gebildet hatte. Sein Bruder zerschlägt ihn mit einer Brechstange, um seine Seele freizulassen, "obwohl er Kommunist war und nicht an Seelen glaubte". Oder die von den Bauarbeitern, die sich an einer Schnellstraße schlafen legen, weil sie der Abgase wegen dort vor den Dengue-Mücken sicher sind, nur um dann von Lastwagen überrollt zu werden.

Leseprobe

Eine Metapher gefällt so gut, dass sie 300 Seiten später wieder verwendet wird

Davor jedoch, im ausufernden Mittelteil des Buchs, scheint es streckenweise, als lasse Roy den Autopilot schreiben. Da stürzen erst die Twin Towers ein, dann springen die Leute aus den Fenstern. Da gefällt ihr eine Metapher - der "internationale Supermarkt des Leids" - so gut, dass sie sie nach 300 Seiten ein zweites Mal verwendet. Da "zwinkern" Blechsärge "die Frühjahrssonne an", da haben Straßenköter einen "felsenfesten" Herzschlag, und da fabriziert sie abstruse Sätze wie diesen: "Normalität in unserem Teil der Welt ist so etwas wie ein weich gekochtes Ei: Seine langweilige Oberfläche verbirgt zuinnerst einen Dotter von ungeheuerlicher Gewalttätigkeit."

Was aber vor allem auffällt, ist die Inkonsistenz ihres Tons und ihres Engagements als Erzählerin. Wieder und wieder verstört sie den Leser mit Szenen von fast pornografisch ausgestellter Gewalt - lässt Menschen bei lebendigem Leib verbrennen, in Gullys steckend ertrinken, zeigt Leichen, denen Geier die Gesichter zerhacken oder von denen nur noch "Fleischstücke, Haare, ein paar Zähne" in einer Tüte übrig sind.

Kann man Chaos durch literarisches Chaos wiedergeben?

Dann zieht sie sich plötzlich lakonisch zurück: "Das Leben ging weiter. Es wurde weiter gestorben. Es wurde weiter Krieg geführt." Nur um sich kurz darauf mit Pathossirene zurückzumelden: "Der Tod war überall. Der Tod war alles. Karriere. Begehren. Traum. Poesie. Liebe. Jugend. Sterben wurde zu einer neuen Lebensweise." Oder: "Mit seinen Begleitern ... war ihm die Liebe der heißblütigen Männer gemein, die leichten Herzens ihr Leben füreinander gaben."

Roy ist wie eine Kartografin, die Kaschmirs Geschichte im Maßstab 1:1 darstellen will, scheitert und es dann widerwillig mit 1:10 versucht. Sie häuft Charaktere und Orte an, historische und erfundene Ereignisse, Nachrichten und Halluzinationen, je mehr, desto besser. Doch ihr mimetischer Versuch geht nicht auf. Chaos lässt sich nicht durch literarisches Chaos wiedergeben - und Gewalt nicht durch literarische Aggression anprangern.

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