Das Leben der Angestellten:Exzesse am Swimming-Pool

Zwischen Kurzaffäre, beruflicher Übersollerfüllung und Kokain: Eine fleißig nutzlose Klasse stellt sich im heftigen Kurzurlaub bohrende Fragen.

Christoph Bartmann

"Am Pool" ist kein schlechter Titel für den Roman von Benjamin Berton, aber "Classe affaires" trifft die soziologischen Intentionen des Buchs besser. Wie aber soll man den Originaltitel ins Deutsche übersetzen: "Die Affärenklasse" oder eher "Die Klassenaffäre" oder vielleicht "Die Klasse Affäre"?

Exzesse am Swimming-Pool
(Foto: Foto: rtr)

Nein, das funktioniert alles nicht, also hat es mit dem Pool, an dem sich die "classe affaires" vorzugsweise in der Freizeit versammelt, schon seine Richtigkeit. Der junge französische Autor Benjamin Berton hat - schon 2001 - einen Roman geschrieben, der sich wie eine Verlängerung von Pierre Bourdieus Untersuchungen zu den "feinen Unterschieden" der französischen Gesellschaft liest.

Der Reflex zum Exzess

Nicht um die ganze Gesellschaft geht es Berton, dem studierten Politologen, sondern um jenes Segment, dessen hervorstechendes Merkmal die Affäre zu sein scheint, und das kann sowohl Liebes- wie geschäftliche Affären betreffen. Um junge Leute aus der Beraterbranche geht es hier näherhin und um ihren eigenartigen Lebenswandel zwischen beruflicher Übersollerfüllung und privatem Wochenendexzess.

Kokain, Sex und Kennzahlen, so ließen sich die vitalen Impulse der hier dargestellten Klasse umreißen, und dass es dem Autor um die Beschreibung eines bestimmten Milieus geht, macht ein Anhang deutlich, in dem, ganz im Stile Bourdieus, Kurzbiographien der Protagonisten gegeben werden.

Eléonore Caribou, die Hauptfigur des Romans, ist Wirtschaftsprüferin, 27 Jahre alt, ledig und arbeitet nach einem Studium der Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Personalmanagement nun bei Ernst&Young in Paris. Sie spricht Englisch, Deutsch und Französisch, und sie beherrscht Microsoft Outlook und MS Office.

Ähnliches können auch die übrigen Romanfiguren - Auditoren, Finanzchefs, Verwaltungsbeamte und Journalisten - für sich beanspruchen: Sie sind jung, sie sind zielstrebig, ehrgeizig und angestellt, sie gehören zu den Erfolgreichen, die sich durchs selektive französische Bildungssystem nach oben gekämpft haben.

Denkt man an Leute wie Eléonore, kommt einem schnell das "aufgeschobene Glück" in den Sinn, das nach Ansicht glücklicher Nicht-Angestellter ein Merkmal der Angestelltenklasse ist. Wie unglücklich ist Eléonore, und was könnte sie eventuell glücklich machen?

Ihr Erfinder hält sie jedenfalls für erlösungsbedürftig; wobei die Erlösung weniger im Abschied von Ernst&Young läge, sondern in einem richtig guten Wochenende an der Côte d'Azur, das Elénores sexuelle Mangelerscheinungen lindern könnte.

Der heftige Kurzurlaub

Berton hat einen geschulten und scharfen Blick auf die Verhältnisse in den Büros, in denen junge Menschen Berufen nachgehen, die ihre Eltern nicht verstehen. Eléonore (auch Nanou genannt) ist eine tüchtige und zuverlässige Mitarbeiterin, aber immer wieder braucht sie eine Auszeit auf der Toilette, um sich in Ruhe mit bohrenden Fragen auseinanderzusetzen, die nicht nur ihr Leben, sondern das der ganzen Klasse berühren: "Muss man denn weiterleben, ohne das Heute zu genießen, oder sollte man sein Dasein in Frage stellen? Einen Laden gründen, dessen Kapitalmehrheit man selbst besitzt, oder eine etwas geselligere Lebensweise annehmen?"

Und schlimmer noch: Was soll man tun, wenn man seit vier Monaten keinen Sex gehabt hat und sich zu Hause allenfalls mit den Zimmerpflanzen unterhält? Gegen beides hilft am ehesten ein Urlaubsantrag, ein unpopuläres Vorhaben zwar, denn bei Ernst&Young liebt man so etwas nicht.

Irgendwie wird dem Antrag stattgegeben, und bald schon sehen wir Nanou am Flughafen Charles de Gaulle auf ihr Flugzeug nach Nizza wartend, das sie zu ihrem Ex-Liebhaber und einer Clique von vergnügungshungrigen Freunden bringen wird. Der heftige Kurzurlaub ist die gelebte Utopie im Leben der Angestellten, und nachdem man "aufgetankt" hat, wird man sich den Zumutungen des Büros erneut mit Frische stellen.

Was die Anforderungen des Büros mit denen der Freizeit kurzschließt, ist die Makellosigkeit des Körpers. Kommt es am Arbeitsplatz darauf an, sich perfekt gekleidet, geschminkt und, in der rechten Dosierung, erotisch attraktiv zu präsentieren, so setzen sich diese Imperative am Pool erst recht fort.

Stanley Kubrick trifft Michel Houellebecq

Schon der Weg dorthin ist mit Überlegungen wie denen gepflastert, die Nanou im Duty-Free-Shop anstellt, als ihr ein Kostüm aus bordeauxrotem Jersey begegnet: "Die junge Frau ist hypnotisiert. Das Kostüm wird lebendig und öffnet eine Art reißverschlussförmigen Metallmund, mit dem es sagt: 'He, komm schon, Schlampe, ich bin wie für dich gemacht"'.

Während Nanou noch aufs Einchecken wartet, ist anderswo ein noch unbekannter Märchenprinz dabei, seines Amtes zu walten. Aurousseau, ein blutjunger Adonis und Banker, besiegelt irgendwo in der Provinz das Schicksal einer Sägemühle und verbreitet dabei eine "Eiseskälte", die seine Umgebung einschüchtert und ihn in einen Machtrausch versetzt. Dann setzt er sich in den Zug nach Süden, um seinen Körper ein wenig am Strand spazieren zu führen. Nanou, die Hungrige, wird seine Schönheit nicht übersehen.

Wenn Bourdieu der eine Pate dieses Romans ist, dann ist Houellebecq der andere. Es geht Berton offenkundig um eine wissenschaftlich-unbeteiligte und gleichzeitig die Dinge ins Monströse und Groteske steigernde Darstellung eines bestimmten hedonistischen und selbstbezogenen Lebensstils. Diese Darstellung gelingt Berton verblüffend gut, und sie hat insgesamt die Form einer Eskalation.

Es beginnt mit den Paarungsritualen der jeunesse dorée am Pool, setzt sich fort in Drogenexzessen und Streitereien, ehe schließlich das Geschehen ins Unwirkliche umkippt. Da hat Nanou schon den schönen Banker Aurousseau getroffen und wird mit ihm Zeugin einer von ferne an Kubricks "Eyes wide shut" erinnernden Sexparty, bei der sich alle denkbaren Facetten einer irgendwie dekadent-gelangweilten Sexualität auftun.

Sexueller Ultra-Realismus

Und endlich, die Party ist vorüber und Nanou hat sich mit Aurousseau an den Strand zurückgezogen, ist auch sie am Ziel ihrer Wünsche. "Jetzt ist es an der Zeit zu ficken", beginnt das Kapitel, und was dann folgt, ist eine so selten gelesene Vermischung von soziologischem Kommentar und sexuellem Ultra-Realismus, den man, wie den Roman insgesamt, wohl als Kritik an der "Classe affaires" zu verstehen hat.

Gefühle sind ihr fremd, ebenso die Sorge um andere oder um die Gesellschaft, was herrscht, ist der krasse Konsum- und Leistungszwang, der das Arbeitsleben ebenso in seinem Griff hält wie die freie Zeit. Dass es am Ende des Romans Tote und Verletzte gibt, verstärkt noch seinen Zug ins Apokalyptische. Eine böse Angestelltendämmerung hat Benjamin Berton geschrieben, das Gruppenporträt einer dominanten Lebensform dieser Jahre.

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