Das Kinojahr 2011 im SZ-Jahresrückblick:Bilder für das Unsichtbare

Ob bei "Harry Potter" oder der "Transformers"-Serie: Das Kino 2011 ließ seine Helden durch viele Höllen gehen und am Ende noch einmal siegen. Doch das wahre Grauen ist längst klandestin. Deshalb findet das Kino neue Bilder für das, was auch in der Wirklichkeit keine adäquate Illustration mehr hat - wie etwa die Finanzkrise.

Tobias Kniebe

Viele Jahre hat der Krieg nun schon gedauert. Das Böse, einst nur ein gewisperter Schrecken aus der Vergangenheit, ist zurückgekehrt und hat an Macht gewonnen, Stunde um Stunde, Jahr für Jahr. Die Gierigen und die Feigen sind längst auf seine Seite gewechselt, sie bilden eine Schattenarmee des Terrors. Die Strukturen der Zivilisation haben sich aufgelöst. Wo früher Leben und Lachen waren, herrschen nun Ödnis und Verfall. Die letzten Aufrechten versammeln sich im wehrhaften Schloss Hogwarts im schottischen Hochland, einer Trutzburg des Widerstands. Der Endkampf ist nah.

Robo-Renner

Transformers 3: Riesenroboter, die eigentlich aus dem All stammen, dummerweise aber die Erde als Schauplatz ihres letzten Gefechts ausgewählt haben.

(Foto: SV2)

So beginnt der letzte Teil von Joanne K. Rowlings "Harry Potter"-Saga, der im Sommer 2011 weltweit die Kinos erreichte. Irgendwann muss ja auch Schluss sein - alles hat ein Ende, nur der Zauberstab hat zwei. Wie es ausgehen würde, war bekannt, die Fans erwarteten keine Überraschungen mehr. Und doch: Die Endzeitstimmung, die da aufkam, sollte das Kinojahr insgesamt prägen - und hätte nicht besser zu dem Grundgefühl passen können, das sich auch außerhalb der Filmpaläste breitmachte.

Gewiss, im wirklichen Leben gab es keine Figur wie Lord Voldemort: keinen schwarzen Magier, der die Welt erzittern ließ, keinen Propagandisten einer finsteren Rassen- und Reinheitsideologie, der die ganze Menschheit in Geiselhaft nehmen konnte. Ein paar Übeltäter und Gewaltherrscher aber sollten im Jahr 2011 durchaus in ihre eigenen Endkämpfe verstrickt werden: Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien, Hosni Mubarak in Ägypten, Muammar al-Gaddafi in Libyen, und ja, in durchaus nicht vergleichbarer Art, auch Silvio Berlusconi in Italien. Den Massenmörder Anders Breivik in Norwegen und die deutschen Rechtsterroristen muss man wohl auch dazuzählen - und außerdem wurde, ganz unzeremoniell, in Pakistan noch ein quasi-pensionierter Oberschurke erschossen: Osama bin Laden.

So viel blutige Entscheidungsschlacht war selten, und deshalb fühlte es sich durchaus folgerichtig beziehungsweise prophetisch an, Harry Potter und seine Freunde einen ganzen Film lang nur noch kämpfen zu sehen.

Eine gute Dramaturgie erlaubt ja keine schnellen, sicheren Erfolge der Guten, sie verlangt Opfergeist in fast aussichtsloser Lage. Alle Zauberkraft kann Voldemort und seine Truppen nicht auf Dauer fernhalten; Harry Potter ist im Kampf praktisch schon besiegt und für tot erklärt. Aber dann rafft er sich eben doch noch auf, ähnlich wie die libyschen Rebellen, starke Kräfte sind plötzlich mit ihm, die unvorstellbaren Energien duellierender Zauberblitze brutzeln durch den Äther, und endlich, zerfällt das Böse zu Staub.

Mit 6,4 Millionen Besuchern war Harry Potter und die Heiligtümer des Todes Teil 2 dann auch der erfolgreichste der 2011 gestarteten Filme in Deutschland (nach Zahlen bis Mitte November).

Til Schweigers dreister Aufguss früherer Erfolge

In der Hitliste folgen ihm Werke wie Pirates of the Caribbean - Fremde Gezeiten, Rapunzel - Neu verföhnt, Til Schweigers Kokowääh und Hangover 2. Bei diesen vier erkennt man ein mehr oder weniger familienfreundliches Zestreuungsbedürfnis des Publikums, das nicht in erster Linie nach Originalität sucht.

Til Schweigers Nummer vom Ego-Schönling, der zum Kinderfreund und Mustervater wird, war ein dreister Aufguss seiner früheren Erfolge, und Hangover 2 wagte sogar etwas, was sich bis dahin noch keiner getraut hatte - in einer Fortsetzung nur die Schauplätze, Sprüche und Nebenfiguren auszutauschen, das Drehbuch aber praktisch unverändert zu lassen.

Solche Unterhaltung, ganz klar, dient der guten alten Verdrängung - was durchaus ein nobler und menschenfreundlicher Zweck des Kinos sein kann, wie man spätestens seit dem großen Entertainment-Philosophen Preston Sturges weiß.

Weitere apokalyptische Anwandlungen ließen sich dann aber doch nicht ganz unterdrücken - auch der dritte Teil der Transformers-Serie wurde zum Beispiel ein großer Erfolg. Darin gibt es, vereinfacht gesagt, gute und böse, in ihrer Form äußerst wandlungsfähige Riesenroboter, die eigentlich aus dem All stammen, dummerweise aber die Erde als Schauplatz ihres letzten Gefechts ausgewählt haben. Auch hier sind die Guten quasi schon besiegt und scheinbar abgezogen, die Bösen rüsten sich für die Herrschaft über die Erde und legen erst einmal Chicago in Schutt und Asche - bis sich das Blatt, auch hier in letzter Sekunde, noch einmal wendet.

Eine eher unsichtbare Gefahr

Solche Blockbuster-Schrecken und gerade noch mal gewonnenen Schlachten konnten dann aber doch über eine Tatsache nicht hinwegtäuschen: Das wahre Grauen sieht längst anders aus. Es hat keine "scharlachrot lodernden Augen" (Joanne K. Rowling) mehr, und es gleicht auch nicht einem haushohen Maschinenmann aus 10.000 Autoteilen mit dröhnender Bassstimme, weder Voldemort noch der Transformer Megatron kommen ihm nah. Denn tatsächlich hat es gar keine Form - und fühlte sich trotzdem verdammt apokalyptisch an.

Das drohende Auseinanderbrechen der Euro-Zone inklusive Weltgesamtbankrott wurde das wahre Untergangsszenario des Jahres, aber in den Nachrichten gab es keine adäquate Illustration mehr dafür. Frühpensionierte Griechen und italienische Bunga-Bunga-Politiker hatten zwar irgendwie mit der Katastrophe zu tun, als richtige Oberschurken taugten sie aber nicht, genauso wenig wie die vielbeschworenen "Märkte" und "Spekulanten", unter denen sich niemand konkret etwas vorstellen konnte. Konkrete Vorstellungen und Bilder für eine eher unsichtbare Gefahr zu finden, darum rangen aber auch die Regisseure des Kinos.

Als im Juli der "Europäische Stabilitätsmechanismus" verabschiedet wurde und damit der sogenannte Euro-Rettungsschirm aufgespannt wurde, vereinten im Kino gerade Harry Potter, seine Lehrer und Mitschüler ihre Zauberkräfte, um einen eigenen, bläulich schimmernden Rettungsschirm gegen die dunklen Armeen Lord Voldemorts aufzuspannen.

Der überwölbte dann transparent das Schloss Hogwarts wie eine rettende Kuppel, an der feindliche Flugdrachen und anderes Getier abprallen und sich eine blutige Nase holen mussten. So oder ähnlich haben sich die Politiker das wahrscheinlich auch vorgestellt: Wer dem Euro Böses wollte, sollte am Rettungsschirm abprallen, besiegt und benommen zu Boden fallen und die Europäische Union künftig in Frieden lassen.

Sicher ist nur, wie die Geschichte im Kino weiterging: Der Zauberschirm hielt der geballten Macht von Voldemorts dunkler Energie natürlich nicht stand, am Ende platzte er in tausend Scherben, und dann ging der Kampf erst richtig los.

Auch Angela Merkel kann im Grunde nur auf die magische Überlebensenergie eines Harry Potter hoffen, der eben nie ganz besiegt ist - auch wenn er schon leichenblass und leblos aussieht und sein Herz zu schlagen aufhört. Was aber die ungreifbare Form des Unheils anging, das die Welt in die Zange nahm - da hatte am Ende der dänische Giftzwerg und Unruhestifter Lars von Trier den besten Instinkt und die sichersten Vorahnungen, und deshalb fand er dann das entscheidende Symbol für ein Schicksal, das niemand mehr aufhalten kann. Melancholia heißt der blaue, freundlich schimmernde Riesenplanet, den Trier in seinem gleichnamigen Film am Nachthimmel auftauchen lässt.

Erst ist es nur ein Gerücht: Der Planet, zehnmal größer als die Erde, soll sich auf Kollisionskurs befinden. Er wird uns nicht treffen, sagen die Wissenschaftler - aber auch Wissenschaftler können sich irren. Man weiß es also nicht. Dafür stehen nun zwei fahle Monde am Nachthimmel, die Tiere spielen verrückt, die Natur verfällt in tödliches Schweigen. Und doch sieht das alles unfassbar schön aus. Eine depressive Frau namens Justine (Kirsten Dunst) verfällt ganz dieser Romantik des Untergangs, nimmt ihr Sonnenbad im doppelten Mondenschein, blüht auf in Erwartung des Endes, beobachtet das Größerwerden des fremden Himmelskörpers am Horizont.

Grandios in seiner halluzinogenen Wucht

Eine ähnliche Sehnsucht nach dem Untergang muss dann auch Lars von Trier selbst befallen haben. Im Mai war er mit Melancholia zum Filmfestival nach Cannes eingeladen, die Kritiker feierten ihn schon als Visionär des Jahres - da nervte ihn eine Frage nach seinen deutschen Wurzeln auf der Pressekonferenz, und er begann eine gestammelte Tirade, die in die Annalen eingehen sollte. Es ging um die Juden und um Israel, um die "Endlösung der Kritikerfrage", um die Kunst von Albert Speer und um Verständnis für Hitler, und schließlich mündet alles in dem Satz: "Was kann ich sagen? Ich bin ein Nazi."

Ernst gemeint war das nicht, schockierend genug war es trotzdem - das Festival erklärte Lars von Trier dann auch prompt zur "Persona non grata". Diesen Status trägt er seither mit einem gewissen Stolz - auch wenn er nicht weiß, wie lange er gilt und was das im praktischen Leben genau bedeuten soll. Der Film aber, der dann im Oktober in die Kinos kam, ist trotzdem grandios in seiner halluzinogenen Wucht und Schönheit, und er bringt ein Gefühl auf den Punkt, das am Ende vielleicht das zentrale Gefühl für den Zeitgeist 2011 sein wird: die Ohnmacht.

Denn so groß die Kampfenergien auch waren, so viel Altes und Verkommenes hinweggefegt wurde - alle Neuanfänge blieben fragil und prekär, große Lösungsvorschläge gab es nicht mehr, und selbst kleinere wurden, nicht zuletzt in der weltumspannenden "Occupy"-Bewegung des Herbstes, mit Misstrauen betrachtet.

Das Kino 2011 ließ seine traditionellen Helden durch viele Höllen gehen und am Ende doch noch siegen und überleben. Wo es unkonventioneller wurde, wie bei Lars von Trier, gab es solche Hoffnung nicht mehr - da war man dann nur noch faszinierter Zuschauer der Apokalypse. In beiden Fällen aber konnte man sich zurücklehnen und einfach das Spektaktel genießen - auch dann, wenn nicht mehr mit einem Happy End zu rechnen war. Selbst aktiv werden, die Zuschauer aufrufen, ins Geschehen eingreifen, die große Erzählung der Zeit nach eigenem Drehbuch gestalten - diese Ambition ließ sich nicht erkennen. Aber das wär doch mal was - Zeit für eine "Occupy"-Kino-Bewegung.

Der Artikel stammt aus dem großen Jahresrückblick der Süddeutschen Zeitung. Im Handel ist das Heft erhältlich ab 3.12.2011, online zu bestellen ab sofort unter www.sz-shop/2011.

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