Das ist schön:Streiten erwünscht

Die Kammerspiele als Forschungszentrum

Von Christiane Lutz

Wozu braucht es ein Theater eigentlich? Zum Reinsitzen und Klatschen? Zum Bewahren wichtiger Werke der Literatur? Zum Staunen über Schauspiel- und Regiekunst? Sicherlich. Auch. Seit Matthias Lilienthal 2015 die Leitung der Kammerspiele übernommen hat, hat das Theater aber noch jede Menge andere Aufgaben. Dazu gehören: Menschen einladen, die nie zuvor im Theater waren. Alles infrage stellen. Sich von Dingen verabschieden, auch, wenn sie gut waren. Rausgehen. Ausprobieren. Die Zuschauer fanden das nicht immer gut, die Auslastung der Kammerspiele liegt zum Ende der zweiten Spielzeit unter Lilienthal bei mageren 63 Prozent. Publikumsliebling Brigitte Hobmeier ist weg und Chefdramaturg Benjamin von Blomberg verabschiedet sich 2019 nach Zürich.

Aber: Die Kammerspiele sind auch zum subversivsten Ort der Stadt geworden. Wo, wenn nicht in der Kunst, ist es erlaubt, ja sogar zwingend, sicher Geglaubtes auf den Kopf zu stellen? Einen Schritt weiter zu sein als die Gesellschaft? Vielleicht hatte es sich das Publikum an den Kammerspielen zu bequem gemacht. Schocken oder irritieren durften die Künstler zwar, man war ja progressiv, aber bitte nur in einem vorher einvernehmlich abgestimmten Rahmen. Lilienthal aber lässt sich nicht auf diese Bequemlichkeitsverabredungen ein. Theater soll kein Unternehmen sein müssen, das möglichst viele Kunden befriedigt und finanziell halbwegs rentabel arbeitet. Theater muss ein Forschungszentrum bleiben, in dem Künstler auch mal Mist bauen dürfen.

Dank Lilienthal wird wieder über Theater gestritten: Was muss ein Stadttheater eigentlich genau machen? Für wen muss es da sein? Lilienthals Antwort lautet: Für alle, die in dieser Stadt wohnen. Sein Theater gehört nicht nur den Theaterwissenschaftlern. Es soll auch den jungen Leuten gehören, die keine Ahnung haben, wer Andreas Kriegenburg ist. Es soll für die Menschen da sein, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind. Anders als andere Intendanten begnügt er sich nicht damit, das traurige Flüchtlingsschicksal einem aufgeklärten Publikum auf der Bühne vorzuspielen. Nein, er setzt viel weiter vorn an. Er bezieht die Menschen mit ein. In der kommenden Spielzeit werden vier syrische Schauspieler in einem kleinen "Open Border Ensemble" arbeiten. Lilienthal richtete ein Welcome Café für Flüchtlinge ein und holte ein paar ihrer liebsten Popstars auf die Bühne.

Sicher schmerzt es, wenn lieb gewonnene Künstler davon ziehen, weil sie sich nicht gebraucht fühlen. Sicher waren allerlei nervige Inszenierungen und missglückte Projekte an den Kammerspielen dabei. Und sicher geht es auch um viel Geld. Aber, um eine alte Binsenweisheit hervor zu kramen: Altes muss vergehen, damit Neues Platz hat. Die Leute sollen also hingehen in dieses Theater, diskutieren und streiten, aber sie sollen nicht fern bleiben. Und wer bereit ist, sich einzulassen, keine Erwartungen zu haben, der kann Überraschendes an den Kammerspielen erleben und spannende Menschen kennen lernen. Das ist sehr, sehr schön.

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