Das ist schön:Haltung zeigen

Zur Empörung über die Theater-Folter im Marstall

Von Christiane Lutz

Jedes Publikum hat sein besonderes Gespür für Grenzen. Und jede Zeit deswegen ihren Theaterskandal. Anfang des 20. Jahrhunderts genügte es noch, sexuell aktive Menschen in außerehelichen Beziehungen zu zeigen, wie Arthur Schnitzler in seinem "Reigen", um für Empörung zu sorgen. Da gähnt der Zuschauer heute nur, er hat alles schon gesehen: Pinkeln, Prügeln, Poppen. In Gruppen, mit Tieren, ach komm.

Jetzt aber kommt Oliver Frljic daher, bosnischer Kamikaze-Regisseur, und inszeniert eine Folterszene im Marstall, die so brutal, so schmerzhaft anzusehen ist, dass Zuschauer eingreifen. Dem großartigen Franz Pätzold wird dabei kontinuierlich Wasser über sein Gesicht gekippt, unter einem nassen Lappen keucht, hustet und spuckt er und erstickt fast. Waterboarding. Ertrinkende Flüchtlinge vor den Toren Europas - die Assoziationen kommen sofort. "Balkan macht frei" heißt der Abend, in dem Frljic sein Schicksal thematisiert. Pätzold spielt Frljic, der die "gesättigten" deutschen Zuschauer beschimpft und ihnen das liefert, was sie "von einem bosnischen Regisseur erwarten", nämlich Gewalt. Über Sinn und Unsinn dieser Inszenierung kann man streiten. Aber dass Folter - die in dieser Intensität nicht simuliert werden kann - im Theater zu weit geht, darin waren sich nach der Premiere viele einig. Keiner schien zu erkennen, welch unglaubliches Vertrauen da zwischen Pätzold und seinen Kollegen Alfred Kleinheinz und Jörg Lichtenstein herrscht, wie entschlossen und stark die Schauspieler sind, einander das anzutun.

Auch bei der zweiten und dritten Vorstellung verließen einige den Saal während dieser Szene, riefen "Aufhören!", bis ein Zuschauer den Wassereimer auskippte, weil er sich diese Qual nicht länger antun wollte.

Franz Pätzold ist ein mündiger Schauspieler, der natürlich nicht gerettet werden muss. In Zeiten jedoch, in denen es erstaunlich wenig gibt, was die Menschen zum Protest und aus ihren Sitzen reißt, ist es erfreulich zu sehen, dass es welche gibt, die bereit sind, verdammt noch mal einzugreifen, wenn das Residenztheater da einen seiner Schauspieler für - je nach Ansicht - zweifelhafte Zwecke quälen lässt. Wenn die Sorge und die Wut größer sind als der Respekt vor der vierten Wand. Der Reflex dieser Zuschauer, für ihre Überzeugung einzustehen, sich zu empören, ist ein guter. Er zeigt Haltung. Das ist schön.

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