Das ist schön:Der Schellack ist ab

Was passiert, wenn man sich von seiner Plattensammlung trennt

Von Karl Forster

Polyvinylchlorid ist der Stoff, in den Lebensgeschichten gepresst sind. Ein paar Generationen früher hätte man dem Schellack diese Eigenschaft zugeschrieben, jenem aus den Ausscheidungen der Lackschildlaus gewonnenen Gummilack, der Materialien wie Schiefermehl und Ruß zur Schellackplatte band. Auch Polyvinylchlorid (vulgo Vinyl, noch vulgoer Schallplatte) ist Vergangenheit, und wenn man sich, getrieben von einer drohenden Veränderung der Wohnsituation, dazu entschließt, sich von allem bisher in langen Jahren gesammelten Vinyl zu trennen, zieht das Leben noch einmal an einem vorbei, und es ist fast so, als stürbe dabei ein Teil von einem selbst.

Der Vinylplattengebrauchtwarenhändler bat um lockere Sortierung nach Genre. Das bedeutete: jede Platte in die Hand nehmen; was wiederum bedeutete: Erinnerungen sortieren. Nicht nur klingende, auch jene, für die die Klänge aus der Rille Begleitmusik waren. Der Kuss bei Leonard Cohens "Halleluja", wo mag sie sein, die damals Geküsste? Und wo steckt wohl jene, die "Mothers Little Helper" von den Stones einst allzu wörtlich genommen, also eingenommen hat? Da, Mozarts Es-Dur-Konzertante mit Isaac Stern und Pinchas Zukermann, im 2. Satz ist ein solcher Kratzer drin, dass die Nadel immer zwei Rillen weiter springt; seither zuckt man bei jeder Es-Dur-Konzertante zusammen, wenn der Kratzer im 2. Satz nicht gespielt wird.

Da, die allererste Platte von Steve Winwood, mit der Spencer Davis Group. Winwood war damals, 1966, gerade mal 16. Heute wirbt eine weltumspannende Habe-alles-übers-Netz-Firma mit seinem "I'm A Man" aus dieser Zeit, in der Version von The Chicago Transit Authority aus dem Jahr 1969, ach, die Kassette mit deren sechs Scheiben "At Carnegie Hall" geht auch weg. Und dann der ganze Wecker, fünf mal Ekseption mit Rick van der Linden, der "Don Giovanni" mit Cesare Siepi, Wiggerl Adams Hallucination Company aus Wien. . .

Nur eine Scheibe hat das Gemetzel überlebt: Bowies "David Live". Ist auf dem Markt für alte Platten weit mehr als 100 Euro wert. Doch darum geht es nicht. Man hat Platz geschaffen im Wohnraum. Das ist schön. Man hat sein Leben aufgeräumt. Auch das ist schön. Aber man hat dafür auch einen Teil des materiellen Gedächtnisses unwiederbringlich vernichtet. Es ist ein bisschen so, als hätte man Leonard Cohen, Steve Winwood und die Zeit, als man zu ihrer Musik küsste, verraten. Aber so viel Sentimentalität, das ist doch auch schön.

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