Dass beim Internet-Filmportal YouTube kein Hardcoresex geboten wird, bedeutet nicht, dass die Seite mehrheitlich von enthaltsamen oder gar asexuellen Wesen frequentiert würde. Obwohl die Nutzer wissen, dass hier keine expliziten Sexdarstellungen zu finden sind, lassen sie sich von Titel-Signalwörtern wie "Sex", "Porn" oder "XXX" verführen: Es könnte ja mal ein Pornoclip durchgerutscht sein. Doch meistens verbergen sich hinter den aufmerksamkeitsheischenden Begriffen keine Sexszenen, sondern Musikvideos oder andere harmlose Clips, die keinen Trick scheuen, um höhere Zugriffszahlen zu erreichen.
Ein eigenes Genre bilden die Filme, die die Erwartungen des Porno-Anklickers enttäuschen und ihm eine Parodie auftischen. So zeigt der puristisch in Versalien betitelte Clip "PORN XXX" als Vorschaubild die Pornordarstellerin Jenna Haze. Im Vorschautext wird oraler Sex und "Hot XXX Adult Action" versprochen. Da muss man doch mal einen Blick draufwerfen: Brünett und bestens gelaunt kniet Frau Haze zu Füßen eines Herren, der es sich auf der Couch gemütlich gemacht hat, und kündigt an, dass sie nun mal nachsehen wolle, welche physische Abnormität ihn zu etwas Besonderem mache. In Aussicht dieser Aktivität wird ihr umgehend warm ums Herz und sie streift das Oberteil ab ...
Doch nein, genau an dieser ungemein spannenden Stelle reißt die Szene ab und ein vollbärtiger Baum von Mann tritt ins Bild, ein Türsteher übelster Sorte, der mit kräftiger Stimme die Teilnahme an Frau Haze' Entdeckungsreise verwehrt. Stattdessen beschimpft er den Zuschauer: "Schande über dich. Zur Strafe guckst du jetzt 'My Little Pony'!"
Zweiter Markt für Schmuddelkram
Und jetzt geht's richtig los: Ein Kinderchor besingt "My Little Pony", und die Zeichentrick-Ponys rutschen den Regenbogen hinab. Hui, macht das einen Spaß! Die Welt dieser Kinderfernsehserie ist ein wiedergefundenes Paradies - der schlimmste Schrecken besteht hier darin, dass die fliegenden Ponys mit Wasser vollgespritzt werden.
Aber der Zuschauer bleibt dran, schließlich weiß er nicht, was noch passieren könnte - und damit ist nicht der aufregende Fund des Goldschatzes im Fluss gemeint: Nach zwei Minuten taucht Jenna Haze auf und wiederholt ihre Anfangsszene dreimal, dann spielen die Ponys eine Partie Seifenblasenvolleyball, die an das Tennismatch in Antonionis "Blow Up" erinnert.
Jennas gespielter Naivität - ihr Name ist Haze, aber sie weiß Bescheid - wird ein Film für ein tatsächlich naives Publikum gegenübergestellt: "PORN XXX" ist eine Parodie auf die Pornosuche im Netz und auf Produkte, die sich mit Porno-Assoziationen zu verkaufen versuchen.
Pornokonsum und Pornoindustrie werden gesellschaftlich zwar toleriert, die mediale Verbreitung erfolgt aber über eine Art zweiten Markt, der vom Mainstream wie von der Hochkultur abgekoppelt ist: Wenn man sie nicht sehen will, sie nicht sucht, begegnen einem entgegen einer allgemein beklagten Pornographisierung keine pornographischen Darstellungen. Undenkbar etwa, dass Netz-Medienhändler Amazon à la "Harry Potter" einen Jenna-Haze-Tag ausriefe, an dem die Post fröhlich durchs Land fährt und die neuen Fellatio-DVDs ausliefert.
Körperbetontes Referat
Der Clip "Internet Porn" zeigt in einer Form, die Lust und Last mit der Pornographie verdeutlicht, wie groß und stark das Schmuddelkind Porno mittlerweile in der Kulturindustrie geworden ist. Er spielt im kalifornischen San Fernando Valley, dem Zentrum der weltweiten Pornoproduktion. Eine junge Frau trägt typische Auf-dem-Bett-liege-Kleidung, hohe Stiefel, ein kariertes Röcken, Top dazu, fertig ist der Liegelook.
Sie hält ein körperbetontes Referat, für das sie die Fakten über die Pornoindustrie im Internet auf ihren Körper geschrieben hat. Sittsam entledigt sie sich ihrer Kleidung, verdeckt die Brüste mit den Händen. Unter der Garderobe kommen stets neue Fakten ans Licht: "In jeder Sekunde gucken 28.258 User Pornos" und "Sex" sei das meistgesuchte Wort im Netz.
Porno, ein 9-to-5-Job
So transparent der Clip über die Pornoindustrie aufklärt, am Ende hat er doch einen Clou: Ihr Name sei übrigens Kelle Marie, lässt die Referentin wissen, und auch sie habe eine erotische Website. Die gelungene Dialektik dieses Clips besteht darin, dass Kelle Marie sich verhüllter gibt als in ihrem Beruf üblich (im Netz finden sich etliche Hardcore-Szenen mit ihr), und zugleich die Ebene der industriellen Pornoproduktion in den Fokus rückt, die ja gemeinhin beim Pornokonsum ignoriert wird: Darüber will man so wenig nachdenken wie beim Hühnchenessen über Massentierhaltung.
Sex ist nun mal ein großer Antrieb des Menschen, in jedem Medium spielt er eine Rolle, von der Literatur über Videokassetten bis ins Internet. Wenn man alle Pornosites vom Netz nehmen würde, so eine Vermutung, bliebe nur eine einzige Website übrig, auf der stünde: "Gebt uns die Pornoseiten zurück!"
Kelle Marie listet Staaten auf, die Pornographie verbieten - Iran, Kuba, Singapur - und auch noch ein paar andere Verbote in petto haben. Aus dieser Perspektive erscheinen die medialen Schmuddelecken weniger als Zeichen für Kulturverfall, sondern als Gütesiegel gesellschaftlicher Freiheit. Was Kelle Marie uns auch noch wissen lässt: 70 Prozent des Pornokonsums spielt sich zwischen 9 und 17 Uhr ab. Also dann mal wieder an die Arbeit.