Das Internetvideo der Woche:Angriff der Killerschildkröte

Welch eine Freude, Stärkere zu ärgern: Eine Schildkröte geht auf Katzenjagd - eine tierische Coverversion in der Clip-Kritik.

Christian Kortmann

Bekanntester Coverversionskünstler unserer Zeit ist kein Musiker, sondern der argentinische Fußballer Lionel Andrés Messi vom FC Barcelona. Vor einigen Monaten schoss er ein Tor, nachdem er in einem Sololauf über den halben Platz die gegnerische Mannschaft samt Torwart ausgespielt hatte, und kreierte damit ein präzises Remake von Diego Maradonas berühmtestem Kunststück, dem Solo gegen England im Jahre 1986. Als wäre solch eine Übereinstimmung in einem komplex-chaotischen Spiel wie Fußball, in dem Gegner, Mitspieler und Spielgerät schwer kontrollierbar sind, nicht Zufall genug, legte Messi kürzlich eine Coverversion von Maradonas zweitberühmtesten Tor nach: Messi drückte den Ball geschickt mit der Hand über die Linie, als es für den Schiedsrichter wie ein Kopfball aussehen musste - genau wie Maradona es im nämlichen Spiel gegen England getan hatte.

Einfach zubeißen

Durch das große Nebeneinander von filmischen Versatzstücken verschiedenster Herkunft ermöglicht das Internet einen neuen Blick auf Ähnlichkeiten in der Welt. Coverversionen - die Neuinterpretation von bekannten Musikstücken - sind daher längst kein musikalisches Phänomen und Remakes keine Domäne der Filmindustrie mehr. Im Netz finden sich zu vielen filmischen Motiven zahlreiche Variationen, die teils bewusst, teils unabsichtlich zustande gekommen sind.

So ging es im Januar dieses Jahres im "Leben der Anderen" um den Clip "Rabbit VS Snake", in dem ein Kaninchen von einer Schlange attackiert wird. Doch anstatt sprichwörtlich vor der Schlange zu erstarren und sich in sein Schicksal zu fügen, wehrt sich das Kaninchen und schlägt zurück: Es lässt sich nicht einschüchtern, erkennt durch Versuch und Irrtum die Schwachstelle der Schlange an ihrem hinteren Ende und jagt sie auf einen Baum.

Dieser Film allein schon war verblüffend, umso mehr staunt man, dass auch Tiere Coverversionen anfertigen. Denn im Clip "The killer tortoise" verfolgt eine zierliche Schildkröte eine gut gewachsene Katze, vertreibt sie aus dem Garten und nimmt es mit einer zweiten Katze auf. Schildkröte oder Kaninchen: Eines der beiden Tiere hat hier ein Remake gedreht. So ähnlich sind sich diese Filme, dass verblüffenderweise in den Kommentaren zur tierlosen Clip-Kritik der Vorwoche ein Leser meinte, der Clip "The killer tortoise" sei bereits besprochen worden, obwohl ich dies tatsächlich erst für heute, also die Folgewoche, plante.

Zunächst sieht es aus wie ein Spiel, Katze und Kröte wälzen sich im Gras, doch dann schießt der schuppige Hals aus dem Panzer hervor und beißt die Katze in den Fuß. Sie flüchtet, doch kein Entkommen: Die Schildkröte nimmt die Verfolgung auf, langsam aber beharrlich, mit einem Unheil bringenden, zielgerichteten Frankensteins-Monster-Gang marschiert sie auf die Katze zu und lässt ihr keine ruhige Sekunde. Kleine fiese Bisse in Pfoten und den buschigen Schwanz verwandeln den Garten-Chill-Out in eine Haustier-Hölle. Die Schildkröte hat keine Angst, weil die Katze ihr nichts tun kann, machtlos ist gegen die Defensivstrategie der Einpanzerung. Miauend und genervt zieht sie sich schließlich zurück.

Elemente subjektiver Kameraführung machen die Schildkröte sympathisch. Aus ihrer Perspektive erkennt man den Größenunterschied zum Gegner und versteht ihre Lust, die Stärkere zu necken, wie das Kaninchen sie ja auch bei der Schlangenjagd auslebte. Sie streckt den Hals aus dem Panzer und hält nach Action Ausschau: Da wackelt ein Katzenschwanz so einladend, dass man einfach zubeißen will.

Baudelaire hat es gewusst

Nun können sich Schildkröte und Kaninchen kaum in dem Sinne inspiriert haben, wie Messi von seinem großen Idol Maradona inspiriert wurde: Biologen nennen solch eine unabhängige Entwicklung von gleichen Verhaltensweisen bei verschiedenen Tierarten Konvergenz. Für den Laienbetrachter ist jedoch unklar, ob es sich um zwei gleiche Spiele handelt oder um ähnliche Handlungen als Folge unterschiedlicher Instinkte. Er erkennt in Killerschildkröte und kühnem Kaninchen einen erstaunlichen Zusammenklang, wie ihn Charles Baudelaire im Gedicht "Correspondances" in den "Blumen des Bösen" beschrieb:

"Im Tempel der Natur, in Säulengängen, Durch die oft Worte hallen, fremd, verwirrt, Der Mensch durch einen Wald von Zeichen irrt, Die mit vertrauten Blicken ihn bedrängen.

Wie weite Echo fern zusammenklingen Zu einem einzgen feierlichen Schall, Tief wie die Nacht, die Klarheit und das All, So Düfte, Farben, Klänge sich verschlingen."

Solche Ähnlichkeiten, die Baudelaire "Correspondances" nennt, waren schon immer in der Welt, doch meist nur dem feinen Sensorium des Dichters ersichtlich. In den Bilderdatenbanken des Netzes werden sie allgemein zugänglich: Hier entstehen also neue Kategorien, in denen es ganz logisch ist, die Ruhmestaten von Schildkröten, Kaninchen und Fußballern zu vergleichen.

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