Das Holocaust-Mahnmal in Berlin wird fertig:Aller Stelen

Ein Raum für Einzelne und Gleiche: Das Mahnmal ist still, einfach, vernünftig, aufgeklärt, zivil, fromm, alles zusammen. Erste Eindrücke von einem modernen Kunstwerk.

GUSTAV SEIBT

Das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin steht kurz vor der Fertigstellung. An diesem Mittwoch wird die letzte Stele, bei der Südostecke des Areals an den Ministergärten, mit einem kleinen Festakt gesetzt. Die Pflasterung zwischen den mehr als 2700 Betonquadern ist weit fortgeschritten. Der unterirdische "Ort der Information", der eine unterrichtende, aber gewiss auch erschütternde Dokumentation beherbergen wird, ist im Rohbau fast vollendet.

Das Holocaust-Mahnmal in Berlin wird fertig: Peter Eisenman, der Architekt des Mahnmals, im Sommer vor einigen, aber noch nicht allen Beton-Stelen.

Peter Eisenman, der Architekt des Mahnmals, im Sommer vor einigen, aber noch nicht allen Beton-Stelen.

(Foto: Foto: AP)

Der zügige Baufortschritt, der hier seit dem Sommer 2003 realisiert werden konnte, nicht zuletzt die Einhaltung der veranschlagten Kosten, steht in scharfem Kontrast zum sonstigen öffentlichen Berliner Bauversagen, wie es sich bei der Topographie des Terrors und der Akademie der Künste am Pariser Platz ausprägte. Der Bund ist, so scheint es, der unendlich bessere, effizientere Bauherr als das Land Berlin mit seinen selbstherrlichen und faulen Behörden. Man kann nur hoffen, dass diese hohe Professionalität im Endspurt auch der Akademie der Künste zugute kommt, deren ehrgeiziger Neubau fast gleichzeitig mit der Einweihung des Holocaust-Mahnmals im Mai 2005 bezogen werden soll. Die Öffentlichkeit wird hier eine Nagelprobe für die ja erst anderthalb Legislaturen alte, aber schon heute nicht mehr wegzudenkende Kulturpolitik des Bundes erkennen.

Die Geschichte des Mahnmals umfasst vom ersten Anstoß noch vor der Wende 1988 bis zur geplanten Einweihung am 10. Mai 2005 gut anderthalb Jahrzehnte. Das ist - gemessen an der Umstrittenheit und der Ambition der Aufgabe - keine lange Zeit, wenn es auch eine besonders bedeutungsvolle Phase wurde: die Gründerjahre der Berliner Republik. Sie sind untrennbar verknüpft mit den symbolpolitischen Entscheidungen der Hauptstadtwahl, der Regierungsarchitektur und der Mahnmalpolitik.

Aller Stelen

Indem es wieder Hauptstadt wurde, vermied Berlin das Schicksal eines pittoresken Geschichtsparks, das dem Mahnmal seine Verbindlichkeit geraubt hätte; die Nähe zum Reichstag mit seiner Kuppel (längst das populärste Bauwerk des neuen Staates) und dem Brandenburger Tor einerseits und der Topographie des Terrors andererseits rückte das Holocaust-Mahnmal in einen unmissverständlichen politisch-historischen Zusammenhang.

Es liegt zwischen den Schauplätzen des deutschen Nationalstaats, des Wachsens und Scheiterns von preußischer Staatsidee und Weimarer Demokratie. Um sein Gelände braust innerstädtischer Verkehr, stehen teils Fassaden von besserer DDR-Platte, teils die anspruchsvollen Kuben von Landesvertretungen, die Rückseite des Hotels Adlon und die grüne Borte der Tiergartenbäume.

Alles hier hat Geschichte, hat Zwecke, hat Bedeutung. Bald wird die festungsartig bewachte amerikanische Botschaft dazukommen. Ein unablässiger Strom von Touristen fließt schon heute an den Bauzäunen vorbei; in Zukunft werden sie sich in den langen engen Gassen des Mahnmals verlieren.

Die Kommentare am Wegrand, zunächst angesichts des zerfurchten Baugeländes oft feindselig und voller Ressentiments, sollen freundlicher geworden sein, berichten die Bauleute. Zustimmung und Nachdenklichkeit gewinnen mit dem Anwachsen sinnlicher Eindrücke von einem modernen Kunstwerk an Boden. Denn dass es sich um ein solches Kunstwerk, wenn auch kein ganz leicht zu definierendes, handelt, das ist nun bei ersten Begehungen evident geworden.

Die schlimmsten Gefahren, die moralisch-historische Allegorie, der didaktische Kitsch, auch ein fataler Schuldstolz, die nichts kostende Zerknirschtheit im Kollektiv, wurden vermieden.

Oft hat man dem Mahnmal seine enorme Ausdehnung vorgehalten und den "fußballfeldgroßen Albtraum" beschworen. Diese Größe war vorgegeben durch das Areal.

Der Architekt, Peter Eisenman, bewies sein Ingenium schon dadurch, dass er die Dimension des Projekts nicht als pharaonische Architektenchance begriff (wie jeder trivialere Geist es getan hätte), sondern als eine hinderliche Bedingung behandelte, der das menschliche Maß erst abzugewinnen ist.

Das ist ihm auf eine grandiose, so einfache wie raffinierte Weise gelungen, allein schon indem er den Abstand zwischen den Stelenreihen auf 95 Zentimeter beschränkte.

Monumental kann das Mahnmal nämlich allenfalls von außen wirken, wobei es durch seine allseitige Zugänglichkeit, die Begrünung mit 40 unterschiedlichen Bäumen und die an den meisten Rändern niedrigen, sanft ansteigenden Stelenformate den flanierenden Betrachtern durchaus entgegenkommt. Entscheidend aber ist der Eindruck im Inneren.

Das Ding ist riesig, gewiss, aber es hat auch etwas Intimes, denn die Stelenwände sind so nah, dass man sich an jeder Seite sofort anlehnen kann. Gleichwohl entsteht auch nicht das Gefühl der Beengung, denn von jeder Stelle führen die rechtwinkelig zueinander geordneten Sichtachsen nach außen auf die Fassaden- oder Baumhorizonte der Umgebung.

Die geraden Pfade zwischen den Reihen zeigen eine starke Auf- und Abwärtsbewegtheit wie in südlichen Bergdörfern, die an Felshängen liegen; so pfeift hier kein Wind durch, und kein Eindruck einer unmenschlichen Geometrie drängt sich auf. Dazu kommt, dass einzelne Stelen leicht aus dem Lot gesetzt sind, also sowohl die Sichtachsen wie die überschauende Ansicht von außen die Anmutung eines lebendigen Rhythmus haben.

All das sind vergleichsweise reduzierte Mittel, die dieser riesenhaften Skulptur etwas fast Filigranes verleihen, ganz im Gegensatz zu ihrer absoluten Ausdehnung. Der kommunikative Effekt ist einschneidend: Es ist auf Dauer nicht möglich, hier nebeneinander zu gehen, selbst Liebespärchen, die im Sommer hier die Kühle suchen mögen, müssen sich hintereinander reihen.

Also erstirbt das Geschnatter. Keine staatsmännischen Gefolgschaften werden sich in dieses zentrumslose, sanft irreguläre, auf- und abgleitenden Wegenetz trauen. Es ist ein Raum für Einzelne und Gleiche, den Eisenman hier geschaffen hat, für Individuen, wenn man so will: für Bürger eines demokratischen Staates.

Das Mahnmal enthält in seinem oberirdischen Teil kein einziges nationales Zeichen. Kein Hinweis auf Jüdisch oder Deutsch ist ihm abzulesen. Es ist also nicht nur individuell und bürgerlich, es ist menschheitlich. Dabei wird es unweigerlich zu einem Seelenraum. In einem beeindruckenden Gespräch mit der Zeit hat der Architekt sich soeben ästhetisch weit vorgewagt und an Künstler wie Caspar David Friedrich und Richard Wagner erinnert.

Der Maler Friedrich steht ihm für die Erfahrung des Alleinseins und des Sichverlierens, der Musiker Wagner für die Macht des Unbewussten und der Dunkelheit.

Vielleicht wird das auf politisches Moralisieren eingeschworene Publikum eine Weile brauchen, um die Brisanz dieser Äußerungen wahrzunehmen. Eisenman zielt für seine Bauaufgabe auf ästhetische Wirkungen einer eigentümlich deutschen, oft als gefährlich irrational geschmähten Kunst ab; er beruft sich auf einen Kosmos meditativer Innerlichkeit, der gerade durch das historische Ereignis, auf welches das Mahnmal sich bezieht, heillos diskreditiert zu sein scheint; wobei diese Kunst immer noch das ist, was die Welt an Deutschland und seiner Kultur am meisten fasziniert. Und mit seiner Formfindung greift Eisenman in der Tat einen Zug dieser deutschen Kunst auf, der sie vom nationalsozialistischen Missbrauch radikal scheidet: Es ist eine Kunst, die ihren Ausgangspunkt vom Einzelnen nimmt, von der menschlichen Seele, nicht vom Kollektiv.

Natürlich drückt dieses Denkmal auch Trauer und Angst aus. Aber von unstatthafter Mimikry an den Schrecken hält es sich ganz fern, und jede naturalistische Deutung, die mit Beengung oder Klaustrophobie argumentiert, führt in die Irre.

Der düstere Farbton des glatten Betons, die Zurücknahme jeder unmittelbaren Zuordnung und Botschaft, der individualisierende Zug der Anlage, kurz das konsequent durchgehaltene Bilderverbot dieser begehbaren Skulptur, lassen das Missverständnis, hier werde so etwas wie Identifikation mit den Opfern angestrebt, abgeschmackt erscheinen.

Der konkrete Schrecken wird dem Besucher in den Dokumenten des "Orts der Information" vor Augen geführt werden, und es ist gut möglich, dass eine wichtige Funktion des Mahnmals darin bestehen wird, dass es den Besuchern erlaubt, mit ihrer Erschütterung erst einmal allein zu bleiben.

Wer je Auschwitz besucht hat, weiß, worum es geht. Eisenmans Werk verlangt seinen Betrachtern und Besuchern wenig ab: nicht Entsetzen, keinen moralischen Krampf, kein Starren aufs Erhabene, überhaupt nichts Unmögliches. Das Mahnmal ist still, einfach, vernünftig, aufgeklärt, zivil, fromm, alles zusammen. Es verleitet zu nichts als zu meditativer Nachdenklichkeit, zu einem bewussten Menschsein, oder, um es mit einem schönen alten Wort zu sagen: Insichgekehrtheit.

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