Süddeutsche Zeitung

"Das Hohe Haus" von Roger Willemsen:Banalität der Demokratie

Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse: Ein Jahr, von Januar bis Dezember 2013, hat Roger Willemsen den Debatten im Deutschen Bundestag zugehört. In seinem Bericht "Das Hohe Haus" mangelt es der Argumentation jedoch an etwas.

Von Jens Bisky

Als Edward Snowden noch Systemadministrator und Philipp Rösler noch Wirtschaftsminister war, ging Roger Willemsen auf die Zuschauertribüne im Reichstag. Berlin, Januar 2013. Ein Jahr lang wollte er den Debatten zuhören, die Rhetorik der Reden analysieren, die Rollen der Abgeordneten und ihr Aus-der-Rolle-Fallen. Er hatte nicht die Absicht, mit Politikern oder Journalisten zu reden, Hintergrundgespräche interessierten ihn nicht.

Nichts als Beobachter wollte er sein, ein politisch interessierter Zuschauer, der dem Geschehen aufmerksam folgt, in den Parlamentsprotokollen - gut 50 000 Seiten - nachliest und hofft, auf diese Weise etwas über den Zustand der Demokratie zu erfahren. Der Einfall scheint der eines leidenschaftlichen Reporters zu sein, doch wehrt Willemsen die Zumutung ab, sein Buch über das Jahr im Bundestag könne das Buch eines Journalisten sein. Ihn interessiere weniger das Aktuelle, mehr das Prinzipielle. In dieser Entscheidung liegt die Stärke des Berichts ebenso beschlossen wie seine Schwäche.

"Das Hohe Haus" beginnt mit klug formulierter Kritik der parlamentarischen Sitten, quält dann mit zahlreichen Wiederholungen und endet in zahmen Kommentaren zu Angela Merkel: ",Sie kennen mich'. Das bedeutet für die Neujahrsansprache: Erwarten Sie nichts." Willemsens Bericht, der in der Kategorie Sachbuch/Essayistik für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, ist ein Dokument der Ratlosigkeit, in der die Mittelschichten des Landes befangen sind, seit sie ahnen, dass ihre größten Hoffnungen im Stillstand liegen, dass sie, um es mit Wolfgang Streecks scharfer Analyse der "Krise des demokratischen Kapitalismus" zu sagen, Zeit kaufen müssen. Der Preis dafür ist hoch.

Kein Ansporn für rhetorische Glanzleistungen

Der wahrscheinlich erste Berliner Parlamentsreporter, Karl Philipp Moritz, hat 1782 aus London mehrfach über die aufregenden Debatten berichtet, in denen es auf das richtige Wort anzukommen schien. Die "Teilnehmung" auch der Geringsten des Volkes, der Karrenschieber, selbst der kleinen Kinder an Diskussionen und Wahlen war groß. Moritz war begeistert, "wie ein jeder sein Gefühl zu erkennen gibt, daß er auch ein Mensch und ein Engländer sei, so gut wie sein König und sein Minister". Es werde einem dabei doch "anders zu Mute, als wenn wir bei uns in Berlin die Soldaten exercieren sehen".

Am hohen Ideal will Willemsen nicht jede Stunde messen und doch kommt er - aus guten Gründen - nicht ohne dieses Ideal aus. Zum Glück! Die Debatten im Bundestag aber sind meist wenig geeignet, Begeisterung, Bürgergefühl, ja überhaupt Teilnehmung zu wecken. Diese Misere, die man sich nicht schönreden sollte, hat sachliche und persönliche Gründe. Die Entscheidungen sind im Regelfall schon gefallen, bevor das Plenum darüber berät. Dadurch wird das parlamentarische Sprechen, wie Willemsen furios erklärt, "uneigentlich": "In Wirklichkeit steht das Resultat fest, und es geht mehr um die Schaufensterdekoration." Daher liegt etwas "Verspätetes, Nachgereichtes im parlamentarischen Reden". Alles in allem kein Ansporn für rhetorische Glanzleistungen.

Weitere Unarten folgen daraus: etwa der Deklarationsstil - wer Muster für schlechte Redner sucht, findet in diesem Buch reiches Material. Hinzu kommt der politischen Streit bloß noch lähmende Parteigeist, nebst Fraktionszwang. Was immer etwa die Linke vorschlägt, es muss abgelehnt werden. Zwischenfragen dienen der Herabsetzung des Gegners, sind also keine Fragen. Wen wundert es, dass viele Reden vor leeren Sitzen gehalten werden?

Gern liest man Willemsen, wenn er zeigt, wie in Floskeln und Schwulst jeder Gehalt schwindet, wenn er davon erzählt, wie auch im Bundestag eine, die schwach wirkt, die Machtinstinkte der sich stark Dünkenden weckt. Groß ist er dort, wo er Charakterköpfen Respekt bezeugt, auch wenn sie Ansichten vertreten, die mit seinen unvereinbar sind. Vieles von dem, was er beschreibt, hat man im Laufe der Jahre auch in Zeitungen lesen können. Immerhin schließt er interessante Überlegungen an: Die Dominanz des Expertentums wird kompensiert durch billige rhetorische Mittel der Psychologisierung und oft schiefen Literarisierung. Statistik und Einzelfall stehen unvermittelt nebeneinander. Wenn Argumente fehlen, werden Standpunkte bezogen. Lebendig - und das gibt es ja auch - wird die Debatte, wenn sie Widerspruch hervortreibt, zu Differenzierungen führt. Das geschieht leichter, wenn es nicht direkt um Finanzfragen geht.

Willemsen beginnt seine nach Sitzungsdaten sortierten Einträge gern mit ein paar aktuellen Schlagzeilen. Vom Land draußen aber, von der Logik der Entscheidungen, den Problemen spricht er kaum. Spätestens um Seite 190 herum - wir sind im April - ist die Diagnose vollendet. Es folgen noch zitierwürdige Sätze, aber keine neuen Einsichten. Der Leser wünscht sich, Willemsen hätte sein Konzept Konzept sein lassen und wäre in Ausschüsse gegangen oder hätte recherchiert, wie die Redenschreiber arbeiten. Doch er tut es nicht. Er folgt weiter der von Anfang an durchschauten Fiktion, das Herz der Demokratie schlage in den Debatten des Bundestages.

Wie ein Buch über die Seefahrt

Ja, manchmal ist das so, aber doch wohl nur in Ausnahmefällen. Hätte nicht ein Monat im Parlament genügt? Die lange Zeit des Zuschauens bringt wenig, von den großen Themen des Jahres 2013 - Steuererhöhung, FDP-Krise, NSU-Untersuchungsausschuss - ist nur am Rande die Rede. Um den Einwand prinzipiell, nicht aktualistisch zu formulieren: Je länger man in diesem Bericht liest, desto mehr erinnert er an ein Buch über die Seefahrt, dessen Autor immer nur vom Kapitänsdinner erzählt und nichts aus dem Maschinenraum, von der Kommandobrücke. Selbst das Meer kommt nur als Rauschen vor.

Das Buch beginnt und endet mit der Neujahrsansprache. Gleich zu Beginn heißt es: "Es ist ein ordinärer Impuls, sich von der Kanzlerin, ihrer Erscheinung, ihrem Gefühlshaushalt, sich von der Volksvertretung insgesamt nicht vertreten zu fühlen." Zur dünkelhaften Pauschalverachtung für die Parlamentarier hält Willemsen Distanz. Er entdeckt auch Glaubwürdigkeit, nützlichen Streit, gemeinsame Lösungsversuche, Rednertalente, berührende Gesten und Schicksale. Er bemüht sich um Differenzierung, Ausgewogenheit. An seinem Buch lässt sich die Entpolitisierung von Kritik studieren. Es artikuliert das vielfach geteilte Unbehagen an den Sachzwängen, in denen die Kanzlerin sich so wohl zu fühlen scheint. Dagegen wird abstrakt gefühlt, gemeint und mit Leitartikelweisheiten Einspruch erhoben. Die Sachzwänge verschwinden dadurch nicht. Schlimmer noch, es werden keine Interessen formuliert, keine übersehenen Sachzwänge benannt. Willemsens sympathisches Eintreten für "die Armen" und gegen die Einsätze der Bundeswehr begründet er lediglich moralisch, oft insinuiert er bloß, dass andere Meinungen vor dem Gerichtshof der Vernunft nicht bestehen könnten.

"Dem Land geht es gut", offenbar so gut, dass inmitten aller Krisen öffentliche Intellektuelle vom Format Roger Willemsens nicht politisch argumentieren. Sie haben moralische Bedenken, sie folgen ihrem Sprachgefühl, sie stellen Stilfragen. Auch das gehört zum Stillstand.

Roger Willemsen: Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2014. 400 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 17,99 Euro.

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SZ vom 07.03.2014/mkoh
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