Das gute Leben:Veilchen vors Bauamt

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Der Kulturgeograf Werner Bätzing will das "Landleben" aufwerten und lokale Identitäten stärken.

Von Thomas Steinfeld

Vielleicht liegt das Land dort, wo es schlecht riecht. In der Gegend zwischen Mantua und Parma zum Beispiel, wo Hunderttausende von Rindern in großen, offenen Ställen stehen, von Tausenden Indern versorgt und bewacht. Vielleicht liegt das Land dort, wo es nichts zu sehen gibt, weil Quadratkilometer um Quadratkilometer mit transparenten Kunststofffolien überspannt sind, unter denen Salatköpfe wachsen. Vielleicht ist das Land unterwegs, in Tausenden von Lastwagen, die Schweine von Polen nach Frankreich oder Hühner von Dänemark nach Österreich transportieren. Vielleicht aber liegt das Land auch an den Autobahnabfahrten, wo Logistikcenter, Serviceeinrichtungen und Supermärkte stehen, die sehr viel Platz beanspruchen, aber wenig zum "Landleben" beitragen.

Solche Landschaften gibt es in allen halbwegs industrialisierten Gegenden der Welt. In der Öffentlichkeit kommt dieses Land aber selten vor, denn abgesehen von den Menschen, die dort arbeiten, geht keiner dorthin. Anders ist es mit dem Land, von dem in Zeitschriften wie Landleben oder Mein schönes Land die Rede ist. Es steht im Licht der Öffentlichkeit.

Den offensichtlichen Unterschied zwischen dem realen Landleben und einem gegenwärtig modischen Bild des Landlebens nimmt der Erlanger Kulturgeograf Werner Bätzing zum Ausgangspunkt eines Buches, das möglicherweise auch eine Klärung des modernen Begriffs "Landleben" liefert, ganz sicher aber eine Kulturgeschichte der Menschheit ("Kultur" im ursprünglichen Sinn, als Kultivierung von Natur verstanden) bietet. Die ersten zwei Drittel des Buches sind deswegen nicht verloren: Knapp und zuverlässig wird man über Entstehung und Entfaltung der Landwirtschaft unterrichtet (obwohl es damals noch kein "Land" gegeben haben kann, weil es keine Städte gab), über Gründe und Entwicklung urbaner Lebensformen, über die Auswirkungen der industriellen Revolution auf die Landwirtschaft sowie über den Niedergang der Dörfer und das "Landleben als Auslaufmodell". Dass man eine Stadt lesen kann, weiß man spätestens seit John Ruskin, einem der ersten Kunsthistoriker. Dass man auch das Land lesen kann, ist eine Einsicht, die sich erst weit später verbreitet, wobei die bis auf den heutigen Tag geläufigen romantischen Verklärungen des Landlebens an dieser Verzögerung einen erheblichen Anteil haben.

Vom Land, in dem man lebt, ist wenig geblieben. Ein großer Teil wurde urbanisiert, nicht in dem Maß, dass wirklich eine große Stadt dabei herauskäme, aber weit genug, dass das Leben arbeitsteilig verläuft, dass man von Dienstleistungen anderer Menschen abhängig ist und wenig Natur um sich herum hat. "Zwischenstadt" nennen Kulturgeografen wie Werner Bätzing diese Siedlungsform. Ein zweiter Teil des Landes ist Gegenstand einer industrialisierten Landwirtschaft, die auf die Kleinteiligkeit älterer Lebensformen keine Rücksicht nimmt und den Gemüsegarten ebenso wenig kennt wie das Zwischengas beim Schalten der Traktoren. Ein dritter Teil des Landes ist für jede Art der kommerziellen Nutzung untauglich und fällt an die Natur zurück. Der kleinste, vierte Teil schließlich wird als Idylle für Erholung suchende Städter eingerichtet und mit Geranien versehen. Er ist deswegen Gegenstand einer alternativen Form der Urbanisierung. Es ist eigentlich nur dieser Teil des Lands, den man unter dem Wort "Landleben" versteht. Von ihm kann, weil er das Land mit einem erweiterten Garten verwechselt und also unmittelbar an die Stadt gebunden bleibt, einer Erneuerung des Landlebens nicht ausgehen.

In den Tagen des Coronavirus kehren die Ideen des "Decamerone" zurück

Eine solche "Aufwertung" hat Werner Bätzing, der in dieser Hinsicht als Sachwalter eines buchstäblich kulturellen Erbes auftritt, aber im Sinn: "Gegen die weitere Zersiedlung und gegen den Bau neuer Zwischenstadt-Strukturen" seien die "Ordnung im Raum und die lokale und regionale Identität zu stärken", meint er. Wie soll eine solche "Identität" aber zu erreichen sein, wenn der Bauer, die Zentralgestalt des alten Landes, ebenso verschwunden ist wie das Dorf in dessen herkömmlicher Gestalt: mit einem geringen Grad von Arbeitsteilung und einem hohen Grad an Selbstversorgung, mit einer kleinen Schule, mit einem Bürgermeister und einem Pfarrer - und ohne jede Eleganz? Und wo sollen die interessanten Menschen herkommen, die sich um eine ländliche "Identität" kümmern könnten? Eine solche "Identität" beruht grundsätzlich auf mehr oder minder erfundenen Traditionen und setzt insofern den Intellektuellen voraus, der dem Land ja offensichtlich fehlt. Aus Gründen: Denn das Land ist kein Produkt des Geistes, sondern eines der gesellschaftlichen Organisation. Es gebe keine Stadt ohne das Land, sagt Werner Bätzing dagegen, eine Gesellschaft ohne Land zerstöre sich selbst.

Die Behauptung mag zwar korrekt sein. Das Argument aber ist negativ und deswegen schwach, und auch die Anrufung einer politischen Bürokratie - Raumordnung, Regionalplanung und kommunale Bauleitplanung (ausgerechnet die Instanzen, die an der Verstädterung des deutschen Landlebens großen Anteil hatten) - wirkt eher hilflos angesichts der offenbar gründlich waltenden Kräfte des Marktes.

Nein, mithilfe des Bauamts ist das Land kaum zurückzugewinnen. Was aber wäre zu tun, abgesehen von lauter Anrufungen des Fürsten Kropotkin und seiner Ideale einer Zukunft in bäuerlichen Genossenschaften? Oder der allfälligen Modernisierungen der Bewegung "Arts and Crafts" von denen, obwohl schon im späten 19. Jahrhundert entstanden und angeblich längst vergangen, die Ideen vom "Landleben" immer noch zehren? In Italien gibt es seit den Achtzigern die Initiative "Slow Food", eine Bewegung wider die Industrialisierung der Landwirtschaft. Darüber kann man spotten, weil sie am Ende auch nichts anderes tut, als eine Idee des Landlebens an Städter zu verkaufen. Und doch wohnt diesen Idealen etwas Vernünftiges inne: In den Tagen des Coronavirus, so wurde aus diesem Land berichtet, sei das "Decamerone" zurückgekehrt, die Vorstellung einer Gruppe von Gesinnungsgenossen oder Freunden, die sich eingedenk einer unbewohnbar gewordenen Stadt auf das Land zurückziehen. Man sage nicht, man habe es dabei mit lauter Hirngespinsten zu tun.

Werner Bätzing: Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform. C. H. Beck Verlag, München 2020. 302 Seiten, 26 Euro.

© SZ vom 10.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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