Das Feuilleton - früher und heute:Heraus aus der Nische

Alfred Hitchcock

Der Regisseur Alfred Hitchcock bei seinem Münchenbesuch im Jahr 1966.

(Foto: Barbara Kreye)

Feuilletonisten sind heute nur noch Chronisten ihrer Zeit. Früher waren sie selbst mächtige Figuren im Kulturbetrieb. Die Vielfalt der Meinungen ist dafür größer geworden.

Von Andrian Kreye

Für einen Fünfjährigen an der Hand der Mutter zu Besuch in der Redaktion in der Sendlinger Straße war das Feuilleton Ende der Sechzigerjahre noch so etwas wie eine heilige Halle. Sehr ruhig ging es dort zu, nicht so aufgeregt wie in anderen Büros.

Eine strenge Dame namens Barbara Bondy nahm die Fotos der Mutter in Augenschein. Nach den meisten dieser Besuche war dann eines der Bilder kurz darauf in der Zeitung. Und wer hätte es einem Fünfjährigen übel nehmen können, dass er damals glaubte, es gäbe dort einen richtigen Kaiser. Sie redeten über ihn ja auch in diesem ehrfurchtsvollen Ton, mit dem man damals über Würdenträger sprach.

Wenn Joachim Kaiser dann mal auftauchte, blieb er eine Gestalt am Horizont der Redaktion, der man aber auch aus der Distanz ansah, dass er viel nachzudenken hatte. Dazu verschwand er dann auch rasch wieder hinter einer der Türen.

München verstand sich auch damals als Kulturstadt, und wer hier etwas werden wollte, beschäftigte sich damit. Die Mutter als Fotografin, der Vater als Konzertagent.

Mit dem Abstand der Jahre gesehen war das Leben als Sohn sehr aufregend, auch wenn man das als Bub noch nicht begreift. Die Mutter fotografierte - das Kind im Schlepptau - Alfred Hitchcock im Nebel vor der Frauenkirche, Hermann Prey in den Kulissen der Staatsoper, Senta Berger in den Bavaria Studios, Loriot am Starnberger See.

Last und Gnade der frühen Geburt

Die Figuren im Leben des Vaters wie der Geiger Pinchas Zukerman, Dirigenten wie Karl Richter und Leonard Bernstein waren harte Arbeiter, die sich im Herkulessaal lange Nachmittage über ihren Notenpulten quälten. Und auch dort tauchte der Kaiser immer wieder auf, in der Ferne der vorderen Reihen, dort wo nicht der Blick, sondern der Klang am besten ist.

Ja, doch, die Figur des Feuilletonisten war damals eine ganz andere als heute. Männer (und es waren doch zumeist solche) wie Joachim Kaiser in München, Marcel Reich-Ranicki in Frankfurt und später dann Fritz J. Raddatz in Hamburg waren weniger Journalisten als selbst Figuren der Kulturgeschichte. Ihr geschriebenes Wort konnte den Lauf dieser Geschichte noch verändern. In beide Richtungen.

Nun war das die Last und Gnade der frühen Geburt, der sie in den Nachkriegsjahren der Bundesrepublik leben ließ. Sie hatten eine enorme Verantwortung, denn die Kultur war damals sehr viel mehr.

Vor allem die klassische Musik, das Theater, die Literatur und die Kunst mussten die Dämonen der Nazijahre aus den Köpfen vertreiben, die brachiale Massenkultur, den brutalen Bombast, die menschenverachtende Ästhetik.

Aus existenziellen Fragen waren Leidenschaften geworden

Männer wie Kaiser und Reich-Ranicki waren wie Fährtensucher durch schwieriges Gelände, die in einer Klaviersonate oder einem Roman eine Tiefe entdeckten, die nicht nur ein ästhetischer Gewinn war, sondern ein Ausbruch aus diesem Kerker der Vergangenheit.

So anders die Arbeit des Feuilletonisten sich heute gestaltet, so anders ist auch diese Figur und ihre Geschichte. Man hatte es sicher leichter, wenn man als Journalist in den Achtzigerjahren groß wurde.

Die Bürde der Vergangenheit war längst keine erdrückende Last mehr. Dafür hatte die Generation zuvor, die der Achtundsechziger, schon gesorgt. Sicher musste man sich auch an den Älteren reiben. Doch wenn sich die Gründung einer Zeitschrift wie Tempo auch noch als Kampfansage gegen jene Achtundsechziger verstand, gegen ihre Verkrustung in einem Aspik aus Besserwissermoral und schalen Rockbands, so hatte die Kultur ihre Rolle als Leitmotiv des gesellschaftlichen Wandels längst verloren.

Sie funktionierte als ästhetischer Betrieb und Industrie der Unterhaltung. Aus den existenziellen Fragen waren Leidenschaften geworden. Ein Luxus, der aber auch Freiräume schuf für neue Formen.

Die neue Themenbreite entwickelte sich in den vergangenen zwanzig Jahren. Zu den klassischen Sujets des Feuilletons, zu Musik, Theater, Literatur, Film und Kunst kamen immer mehr dazu - erst der Pop, dann die Politik, die Wissenschaft und das Digitale.

Heraus aus der Nische der Hochkultur

Mit den Themen verändert sich auch der Kulturbegriff, der gerade in dieser Zeit wieder vollkommen neu definiert wird. Auch die Arbeit hat sich gewandelt. Aus Künstlern wurden Stars. Zur klassischen Form des Feuilletons, der Kritik, kamen unzählige andere Spielarten des Journalismus - die Reportage, die Analyse, das Interview, die Satire.

Nicht nur das, im digitalen Zeitalter sind auch noch all die Formen dazugekommen, die im Internet entstanden - die Videokolumne, der Liveticker, das Listicle, das Scrollytelling, der Feed auf Twitter und Facebook.

Der digitale Alltag zeigt aber auch, wie weit sich das Feuilleton heute von seiner Rolle als Nische der Hochkultur entfernt hat. Mit der Vielfalt der Themen kam eine noch größere Vielfalt der Meinungen. Und damit der Streit.

Kerstin Pätzold, 51, Zamdorf

"Das Feuilleton ist eine ganz eigene Welt, manchmal auch etwas abgehoben. Ich finde es schön, dass es so etwas noch gibt."

Bei der Arbeit der vergangenen drei Jahre, aus einer Tageszeitung ein Medium zu entwickeln, das nicht nur im Tages-, sondern auch im Wochenrhythmus der SZ am Wochenende und dem 24-Stunden-Puls des Internets funktioniert, war diese neue Dynamik direkt erlebbar.

Mit kritischem Blick und Ohr das Brillante vom Mittelmaß zu trennen

Ein großes Essay vom Philosophen Jürgen Habermas zum Beispiel ist keineswegs ein Text für intellektuelle und akademische Eliten. Als er im Juni auf einem der Höhepunkte der Griechenlandkrise seinen Beitrag "Sand im Getriebe - Nicht Banken, sondern Bürger müssen über Europa entscheiden" im Feuilleton der SZ veröffentlichte, erschien er zeitgleich auf SZ.de.

Das Jahr 2015 ist zwar noch nicht vorbei, doch bislang war dies einer der SZ-Texte, die in digitaler Form um ein Vielfaches öfter in den sozialen Medien geteilt und häufiger auf der Webseite der Zeitung geklickt wurde als alle anderen. Was eben nicht nur das Vorurteil entkräftet, das Feuilleton sei ein Elfenbeinturm, sondern auch jenes, das Netz sei bestenfalls ein Hort von Katzenbilderfans.

Die Fotografien aus der Kindheit aber, die Porträts von Hitchcock, Prey und Berger, hängen heute nicht in einem Chefzimmer in der Sendlinger Straße, sondern in einem Büroraum in einem Glasturm am Rande der Stadt.

Als Feuilletonist ist man heute nicht mehr Figur, sondern Chronist seiner Zeit. Es ist aber kein Zufall, dass die Leiterin und der Leiter des Feuilletons ebenso viel Erfahrung in den Schützen- wie in den Orchestergräben dieser Welt gesammelt haben, dass sie sich für eine gelungene Symphonie oder Inszenierung so begeistern können wie für einen Song oder einen neuen Gedanken, der die Zukunft ganz anders sieht, die Vergangenheit oder auch nur das Hier und Jetzt.

Diese Welt ist nicht einfacher geworden, die Arbeit dafür umso interessanter. Gerade in München, denn das versteht sich wahrscheinlich mehr denn je als Kulturstadt. Auf die großen Dirigenten, Regisseure und Museumsdirektoren von damals folgten die großen Dirigenten, Regisseure und Kuratoren von heute.

Hoffnung auf Neugier

Kaum eine andere Stadt hat drei Weltklasseorchester. Das Programm der Münchner Museen kann es mit jeder Weltmetropole aufnehmen. Und selbst die neuen Phänomene, Pop in all seinen Variationen, finden ihren Weg schon bald aus aller Welt nach München.

Zu viel Begeisterung für einen kurzen Rückblick? Genau das ist die Hoffnung an jedem Morgen um neun, wenn man in die Redaktion kommt, vor sich vier bis acht leere Seiten nicht auf dem Tisch, aber auf dem Schirm.

Die Hoffnung, dass die Neugier und die Leidenschaften all der neuen und klassischen Feuilletonisten dieser Zeitung auch die Leser da draußen anstecken. Um dann mit kritischem Blick und Ohr das Wichtige vom Unwichtigen, das Brillante vom Mittelmaß zu trennen und über den Lauf einer Zeit zu berichten, die auch das Feuilleton und seine Feuilletonisten immer wieder aufs Neue verändert.

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