Bilder und Schatten bei Dante:Unser Lichtgewand wird bleiben

The Divine Comedy La Divina Commedia La Divine Comedie Purgatorio Canto 10 The marble sculptu

Schatten lassen sich ebenso wenig berühren, wie man Bilder umarmen kann: Illustration der Göttlichen Komödie von Gustave Doré.

(Foto: imago stock&people/imago/Leemage)

Tote werfen keine Schatten: Wie Dante in seiner "Commedia" das Wunder vollbrachte, ein Bild für die Seelen im Jenseits zu schaffen.

Von Hans Belting

Dantes Commedia, die später als "göttliche Komödie" gefeiert wurde, ist eine Jenseitsreise , die der Dichter als seinen Traum vorstellt. Die Toten als Bewohner des Jenseits werden als Bilder eingeführt, deren Ursprung und Sinn im Folgenden das Thema bilden.

Dantes Jenseits entspricht dem mittelalterlichen Konzept von drei Orten, die in den drei Büchern des Werks beschrieben werden. Die Toten treten in den ersten beiden Büchern, dem Inferno und dem Purgatorio, als lebende Schatten auf, die ihren sterblichen Körper noch als Bild und Stimme mit sich tragen. Im Paradiso haben sie sich in Lichter verwandelt, die aber noch auf ihre Auferstehung in einem unsterblichen Körper warten. An den drei Orten herrscht auch ein verschiedener Zeitbegriff, in der Hölle eine endlose Zeit, auf dem Läuterungsberg die für jeden anders bemessene Zeit der Buße und am Himmel das erwartete Ende der Zeit.

Im ersten Gesang des Inferno, der als Einleitung dient, wird in größter Klarheit das Szenario vorgestellt, das der Dichter in seinem Werk entfalten wird. Vor dem Beginn seiner Reise verirrt er sich "in einem dunklen Walde", in dem wilde Tiere ihm den Weg versperren. Da erscheint plötzlich jemand, "der stumm schien von langem Schweigen". Dante ruft ihn um sicheres Geleit an, "wer Du auch seiest, ob Schatten oder echter Mensch". Die Antwort lautet: "Ich bin kein Mensch, aber das bin ich einmal gewesen".

In der Antike lebten die Menschen im Jenseits als Schatten fort

Damit ist der sprechende Schatten eingeführt. Was dieser über sein einstiges Leben andeutet, verrät dem Dichter, dass Vergil vor ihm steht. Ehrfürchtig begrüßt er den größten Literaten der lateinischen Antike als seinen "Meister" (maestro) und sein unerreichbares "Vorbild" (autore). In Vergils Aeneis steigt im sechsten Buch der Trojaner Aeneas, der künftige Gründer Roms, bei Neapel in die Unterwelt herab, um seinen Vater Anchises über die Zukunft zu befragen. Während dort die kumäische Sibylle die Begleitung übernimmt, fällt diese Rolle jetzt Vergil selbst zu, der erst im Paradiso die Führung einer anderen Seele (anima), nämlich Beatrice, überlassen muss.

Schon in der Einleitung von Dantes poetischer Jenseitsreise fallen also zwei Begriffe, die in zwei verschiedenen Kulturen die Vorstellung vom Fortleben der Toten geprägt haben, "Schatten" in der antiken und "Seele" in der christlichen Kultur.

Der lebende Schatten bereicherte die europäische Imagination mit einer antiken Redefigur, die bei Dante ihr volles poetisches Potential zurückgewinnt. Diese Redefigur war Dantes ureigene Idee, aber er legt ihre Erklärung dem antiken Dichter Statius in den Mund. Es war ein Wagnis, im Jenseits Seelen sehen zu wollen, die nach der christlichen Seelenlehre körperlos geworden waren. Dantes Schatten waren keine Anleihe bei der Theologie, sondern eine Hommage an Vergils Jenseitsreise.

Er entwickelt die doppelte Strategie, solche Bilder zugleich in Analogie mit dem Schatten und im Gegensatz zum Körper zu definieren. Der doppelte Körperbezug ist in dem Schatten, den wir selbst werfen, schon vorgegeben. Man kann ihn auf die allgemeine Formel bringen: Ein Bild ist wie ein Schatten, der sich vom Körper unterscheidet und doch vom Körper im Licht hervorgebracht wird. Die sinnliche Anschauung führt erst zur Imagination und dann zum Begriff.

Schatten lassen sich ebenso wenig berühren, wie man Bilder umarmen kann

Die Schwelle zwischen Körper und Schatten, so eng sie im Sonnenlicht auch zusammen gehen, lässt sich ebenso wenig überschreiten wie die Grenze zwischen Leben und Tod. Bei Dante ist sie keine Verführung zur Transgression, sondern ein Ergebnis der Transzendenz. Die Analogie von Bild und Schatten, im mimetischen Verhältnis zum Körper, führte ihn folgerichtig im nächsten Schritt zur ontologischen Differenz zwischen Schatten und Körper. Körper werfen im Schlagschatten ihr Bild auf den Boden, während die Toten schon deswegen keinen Schatten werfen, weil sie Schatten sind.

In der antiken Schattenlehre lassen sich die Schatten ebenso wenig berühren, wie man Bilder umarmen kann. Schon Homer beschreibt eine vergebliche Umarmung, die zur Enttäuschung führt. Als Odysseus das Bild seiner Mutter in seinen Armen umfangen will, entweicht es "wie ein Schatten oder ein Traum". Aeneas legt in Vergils Epos seine Arme um den Hals des toten Vaters, aber "das Bild entflieht seinen Händen". Dort sieht er "körperlose Lebewesen", die ihm "in einem leeren Bild" entgegentreten.

Diese Art der Beschreibung findet sich auch in Dantes Werk. Im zweiten Gesang des Läuterungsbergs sah Dante eine Seele, die sich ihm nahte, um "ihn zu umarmen". Als das misslingt, ruft Dante aus: "Oh leere Schatten, die nur im Blick existieren!" Vor ihm steht sein Freund Casella, den er zuerst an seiner Stimme erkennt und der ihm beteuert: "So wie ich einst Dich liebte im sterblichen Körper, so liebe ich Dich nun auch körperlos."

Im 21. Gesang treffen Dante und sein Führer auf den römischen Dichter Statius. Als Dante ihm Vergil vorstellt, hält dieser ihn davon ab, ihn zu umarmen: "Bruder, lass davon ab, denn Du bist ein Schatten, und Du siehst auch nur einen Schatten." Statius bekennt beschämt, er habe "unsere Nichtigkeit vergessen und sich zu einem Schatten wie zu einem festen Körper hingezogen gefühlt".

Die aufsteigenden Seelen erschrecken, wenn sie bemerken, dass Dante atmet

Der Gegensatz im Erscheinungsbild zwischen Dantes Körper und den Schatten kommt erst im dritten Gesang des Purgatorio an den Tag, als Dante die dunklen Abgründe der Hölle verlässt und am Fuße des Läuterungsberges in das Sonnenlicht heraustritt. Da die Sonne in seinem Rücken stand, wirft er einen Schlagschatten vor sich auf den Boden: "Das Sonnenlicht war vor meiner Figur gebrochen", "weil es hier an einen Halt geriet". Das aber geschah nicht bei Vergil.

Im nächsten Augenblick ändert sich die Konstellation, als eine Schar von Seelen auf den Schlagschatten starrt, den Dante auf den Felsboden warf, da bestätigt Vergil ihnen, "dass es tatsächlich ein menschlicher Körper ist, den ihr seht, und dass deswegen das Licht der Sonne bei ihm auf dem Boden gespalten ist"" Es geschehe mit Willen Gottes, dass Dante hier noch seinen Körper habe, "an dem das Licht gebrochen" ist. Diese Situation wird sich verschiedene Male am Berg wiederholen.

Die aufsteigenden Seelen erschrecken, wenn sie bemerken, dass Dante atmet und einen Schatten wirft, womit er sich als Eindringling erweist. Im Kreis der Wollüstigen wird er gefragt, wieso "Du aus Dir eine Wand gegen die Sonne machen kannst". Sie raunen einander zu: "Der dort scheint keinen fiktiven Körper zu haben", womit sie eine Aussage über sich selbst machen. Der Schlagschatten ist zum Erkennungsmerkmal des festen Körpers geworden, den die Seelen verloren haben.

Dante will jetzt erfahren, warum die Schlemmer, die als Seelen doch keine Nahrung brauchen, abgemagert sind und zu hungern scheinen. Vergil weicht zunächst aus und ist dann doch bereit, die Entstehung des Schattenleibs offen zu legen. Er fordert den Dichter Statius auf, das kosmische Panorama aufzurollen, in dem auch der Schattenleib seinen Platz hat. Dabei geht Statius in drei Schritten vor. Zuerst rekapituliert er nach Aristoteles die Entstehung des Leibes in der menschlichen Zeugung. Sodann folgt er der Scholastik der Theologen in Gottes Erschaffung einer unsterblichen Seele. Wenn sie sich im Leben des Körpers ausdrückt, vereint sie göttliche und menschliche Eigenschaften.

Das Wunder der Entstehung eines Bildes, in dem die Seele im Jenseits fortlebt

In einem dritten Schritt ist Statius, also Dante, auf sich allein gestellt, wenn er die Entstehung des Schattenleibes beschreibt. Löse sich die Seele im Tod vom Körper, so behalte sie jedoch die Gestaltungskraft, die sie bis dahin im Körper besaß. In einem ersten Naturvergleich beruft sich der Dichter auf die Erzeugung des Regenbogens durch das Sonnenlicht in regennasser Luft. Ebenso bilde sich im Jenseits die umgebende Lufthülle zu einer Form aus, in der sich die verbleibende Seele "aus eigener Kraft" ausdrücken könne.

In einem zweiten Naturvergleich werden wir an die Flamme erinnert, die dem Feuer überall hin folgen müsse. Ähnlich folge dem Geist seine neue Form: "Deshalb nennen wir sie Schatten". Aber der kühne Vergleich birgt einen wesentlichen Unterschied. Während sich die Seele im Diesseits in ihrem Körper ausdrückt, kann sie das im Jenseits nur in einem Schatten eigener Art. So kommt es, sagt der Schatten "dass wir reden, dass wir lachen und weinen müssen", wovon sich der Reisende auf dem Läuterungsberg selbst habe überzeugen können. Es sind solche Affekte, "von denen der Schatten geformt wird".

In diesem viel gedeuteten Text lässt sich Dante auf ein Wagnis ein. Es ist das Wunder der Entstehung eines Bildes, in dem die Seele im Jenseits fortlebt. Wie Etienne Gilson gezeigt hat, war für die Existenz von Schatten im theologischen Universum kein Platz. Diese sind Geschöpfe eines Dichters, der Vergils Vorbild in einen christlichen Kontext überträgt.

Im dritten Buch unternimmt Dante noch einmal ein neues Wagnis, für das seine bisherige Erzählkunst nicht ausreichte. Der Aufstieg in die Planetensphären des Paradiso stellte eine Aufgabe dar, die mit der Schattenmalerei des zweiten Buches nicht mehr zu bewältigen war. Die Bildfrage stellt sich hier noch einmal neu. Seit die Seelen den Schattenleib hinter sich ließen, haben sie sich in Lichter verwandelt, die den Schatten nur noch im Widerspruch in sich tragen. Ihr Schatten hat sich in Licht aufgelöst.

Dante beschreibt, was "noch niemand beschrieben hat"

Der Reisende, der noch in seinem Körper lebt, hat buchstäblich den Boden unter den Füßen verloren. Die Seelen bewegen sich schwerelos und so schnell wie das Licht durch den Äther. Dante spricht von "lebenden Lichtern", die wie unzählige Spiegel das göttliche Licht reflektieren: "Da sah ich tausend Seelen zu uns eilen".

Eine von ihnen, die wie alle anderen in ihrer eigenen Lichthülle "eingenistet" war, näherte sich ihm, um mit ihm zu reden. Als der Dichter sie fragt, wer sie denn sei, strahlt sie "in einem helleren Glanz" auf, der ihre Freude über die Frage anzeigt. Andere Bilder knüpfen an die nächtliche "Konstellation" von Sternen an. Das "schöne Bild", das im neunzehnten Gesang einen Adler mit ausgebreiteten Schwingen darstellt, ist ein Gruppenbild, in dem jede Seele wie ein Rubin erstrahlt. Deshalb kann der Adler auch mehrstimmig sprechen. Dante beschreibt jetzt, was "noch niemand beschrieben hat und was sich selbst die kühnste fantasia nicht vorstellen kann".

Die Gottesschau erzeugt das Licht, das die Seelen ausstrahlen. Aber haben sie hier bereits ihren Endzustand erreicht? Die Antwort übernimmt Salomon im vierzehnten Gesang. "Unser Lichtgewand wird bleiben und sogar noch heller strahlen, wenn dereinst das Fleisch glorreich und geheiligt unsere persona wieder zu einer lebenden Ganzheit fügt". Die Rückkehr der Seelen in ihren unsterblich gewordenen Körper ist, für sich betrachtet, ein kühner Gedanke, aber er wurde Dante von der christlichen Religion auferlegt. Doch gewinnt Dante seine Freiheit als Dichter zurück, wenn er hinzufügt, die Seelen empfänden "Sehnsucht nach ihren toten Körpern".

Menschen haben schon früh auf eine existentielle Bedrohung geantwortet, wenn sie das Gesicht des Bildes gegen die Gesichtslosigkeit des Todes eintauschten. Sie waren durch den Tod in das Rätsel einer Abwesenheit verstrickt, der Bilder ihren ältesten Sinn verdanken. Ihre Anwesenheit in der Welt antwortet auf eine endgültige Abwesenheit. In den Mythen des Totenkults kehrte der Tote noch einmal an einen Ort zurück, an dem ihn die Lebenden mit einem Bild erwarteten. Der ontologische Sinn der Bilder war deshalb an den Tod gebunden, weil nur hier der Schein des Bildes ein neues Sein auf sich zieht.

Dantes Jenseitsreise liegt eine Bildtheorie zugrunde, die auf dem Unterschied von Bild und Körper beruht. Er unterscheidet Bild und Körper in dem doppelten Sinne, dass Körper keine Bilder sind, während Bilder keinen Körper haben. Sterbliche Körper werfen Schlagschatten, nicht aber die Seelen, die im Schattenleib weiterleben. Da Schattenleiber nichts anderes als Bilder sein konnten, schlossen sie jede Verwechslung mit lebenden Körpern aus. Allein Dantes träumendes Selbst konnte die Grenze zwischen Leben und Tod passieren.. Der Todesbezug, in anthropologischer Sicht die Geburtsstunde der menschlichen Bildpraxis, führt auch Dante zu den poetischen Bildern einer Jenseitsreise, die Weltliteratur geworden ist.

Hans Belting ist Kunsthistoriker. Eine ausführliche Darstellung des Themas erscheint in dem Band "Evidenzen des Jenseits", herausgegeben von Dominik Perler und Friederike Wilke, im Wallstein Verlag.

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