Süddeutsche Zeitung

Daniel Kehlmanns neues Buch "Ruhm":Sudoku ist kein Roman

Lesezeit: 7 Min.

Heute erscheint das neue Buch des Bestseller-Autors Daniel Kehlmann: Sein Roman "Ruhm" will von Erfolg und moderner Kommunikation erzählen und ist auf bemerkenswerte Weise misslungen.

Lothar Müller

Es ist etwas falsch gelaufen in der deutschen Nachkriegsliteratur, sagt der Schriftsteller Daniel Kehlmann in seinen Poetikvorlesungen "Diese sehr ernsten Scherze" (2007): zu viel Realismus, zu viel soziales Engagement, und wenn auf der anderen Seite an den Dadaismus der Vorkriegszeit angeknüpft wurde, dann ließ man den Humor weg und betrieb die Lautpoesie akribisch, als Experiment. In Kehlmanns sehr forschen und sehr belesenen Essays ("Wo ist Carlos Montúfar?", 2005) hilft gegen die Enge der deutschen Literatur und Literaturkritik nur die Orientierung an einem weltliterarischen Dreigestirn: an den Erzählern Südamerikas und ihrer Aufhebung der Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, an der formbewussten Eleganz Vladimir Nabokovs und an den schwindelerregenden Abenteuern, in die Jorge Luis Borges die Ideen der metaphysischen Tradition und die Formen der Literatur selber verwickelte.

Das bisherige literarische Werk Daniel Kehlmanns, der 1975 in München geboren wurde und in Wien aufwuchs, ist aus dem reformatorischem Ehrgeiz hervorgegangen, den seine Essays formulieren. Mit den Sprachskeptikern und Sprachzertrümmerern, denen die Liebe seiner Lehrer in Schule und Universität galt, hat er so wenig am Hut wie mit den Tiraden und endlos bösen Wortgirlanden Thomas Bernhards.

Zu denjenigen unter seinen Generationsgenossen, die noch immer in Familienromanen verschwiegener historischer Schuld nachspüren, steht er in kühler Distanz. Seine Figuren leiden nicht an der Geschichte ihres Landes, sondern an der Unerbittlichkeit des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik wie in "Mahlers Zeit" (1999) oder an den paradoxen Problemen der Logik. Zu den Traditionen, die Kehlmann demonstrativ ausschlägt, gehört die Unterwanderung des Romans durch die Autobiographie.

Schon sein Debüt, der Roman "Beerholms Vorstellung" (1997) war am Gegenpol zu allen autobiographischen Coming-of-age-Büchern angesiedelt. Es hatte einen Ich-Erzähler, von dem über seinen Autor wenig zu erfahren war, außer dass dieser seinen Helden mit Lust in die Spiegelkabinette der Magie und Illusionskunst schickte. Und es ließ bereits erkennen, was diesem Autor auch in seinen künftigen Büchern leicht von der Hand gehen sollte.

Er ist sehr gut darin, Theorien - nicht zuletzt die fiktiven Theorien fiktiver Theoretiker - in Erzählstoffe zu verwandeln. Und er kann seinen Figuren unterhaltsam pointierte, witzige Dialoge in den Mund legen, während er sie mit leichter Hand durch Plots schickt, die er eigens erfunden hat, um diese Figuren an sich selbst oder der Welt irre werden zu lassen.

Diese Fähigkeiten mögen zu dem Erfolg beigetragen haben, den Kehlmann mit seinem Roman "Die Vermessung der Welt" (2005) hierzulande, aber auch international erzielt hat, dem Buch, in dem Alexander von Humboldt und sein Gefährte Bonpland als komisches Duo vom Schlage Don Quijote und Sancho Pansa die südamerikanischen Gebirge erklimmen, während der Mathematiker Gauß im heimischen Göttingen als übel gelauntes, selbstmordgefährdetes Genie die euklidische Geometrie aus den Angeln hebt: beide, der Reisende Humboldt wie der Mathematiker Gauß, hatten sich in Delirien des Raumes zu verlieren.

So wollte es der Autor Kehlmann, und so gelang es ihm auch bei seinem Spiel mit der Form des historischen Romans. Denn zu seinen Stärken gehört, wie gesagt, die Führung seiner Figuren mit leichter Hand. Jetzt, auf der Höhe seines Ruhms, hat Kehlmann ein Buch veröffentlicht, das den lapidaren Titel "Ruhm" trägt (Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 206 Seiten, 19,80 Euro). Dieses Buch enthält, wie der Untertitel sagt, neun miteinander verzahnte Erzählungen, die insgesamt einen Roman ergeben sollen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum immer das Schlimmstmögliche passieren muss.

Es ist auf bemerkenswerte Weise misslungen. Denn es offenbart, erstens, eine Schwäche dieses Autors, seine Grenze: Er kann keine Figuren erfinden, die ihrem Autor ernsthaften Widerstand entgegensetzen, die ihm gegenüber Geheimnisse bewahren, die er nicht auflösen könnte. Und es gründet, zweitens, seine erzählerische Dramaturgie auf eine Theorie, die es sich mit ihrem Gegenstand, den modernen Kommunikationstechnologien, allzu einfach macht.

Beginnen wir mit dieser unausgereiften Theorie. Sie herrscht schon in der ersten Geschichte, "Stimmen", in der sich ein Techniker widerwillig, weil alle seine Unerreichbarkeit beklagen, ein Mobiltelefon zulegt und irrtümlich eine Nummer zugeteilt bekommt, die einem berühmten Filmschauspieler gehört. Die Theorie behauptet, dass Handys als Agenten der Ortlosigkeit, der Anonymisierung und der Begünstigung des Identitätsverlustes wirken. Flugs wird so der Techniker, weil ihm Kehlmann eine Stimmenähnlichkeit mit dem Schauspieler zugeschrieben hat, zum Doppelgänger seiner selbst, der in das Leben des Filmstars eingreift, dessen aktuelle Affäre ruiniert, wichtige Termine storniert, einen weniger erfolglosen Kollegen in den Selbstmord treibt.

In der Komplementärgeschichte "Der Ausweg" wird dann der Schauspieler, der plötzlich keine Anrufe mehr erhält, dazu getrieben, anonym als Double seiner selbst aufzutreten, bis aus dem Spiel mit dem Verschwinden ungewollt ernst wird und ihm der Rückweg in seine Starexistenz versperrt ist.

Das läuft wie geschmiert und liest sich schnell weg, aber nur scheinbar zwanglos gehen in diesen ausgeklügelten Geschichten die alten, romantischen Gespenster der Selbstverdoppelung aus der modernen Technik hervor. Denn diese Technik ist, wie nicht nur besorgte Eltern wissen, die ihre Kinder per Handy-Ortung überwachen, ebenso sehr ein Instrument der Identifizierung, der Lokalisierung und Kontrolle wie der Verleugnung und Maskierung der Identität. Spannend werden Geschichten, wie sie Kehlmann wohl vorgeschwebt haben, erst dann, wenn sie diese widerstreitenden Energien gegeneinander antreten und sich in die Quere kommen lassen.

"Wie lange kann so etwas gut gehen?", fragt sich in der Erzählung "Wie ich log und starb" der Abteilungsleiter einer Telekommunikationsfirma (es ist natürlich die Abteilung, die für die Vergabe der Schauspieler-Nummer an den Techniker verantwortlich ist), nachdem sein Doppelleben zwischen Ehefrau und Geliebter schon seit Monaten unentdeckt ist: "Wie ging das eigentlich früher vor sich? Wie log und betrog man, wie hatte man Affären, wie stahl man sich fort und manipulierte und richtete seine Heimlichkeiten ein ohne die Hilfe hochverfeinerter Technologien?"

Kehlmann hat dieser schlichten Frage des Abteilungsleiters, der das Produkt, das er verkauft, anstaunt, ohne es zu verstehen, in seiner Plotentwicklung wenig voraus. Damit, dass die Technologien der Überwachung und des Misstrauens denen denen des Lügens und Täuschens ebenbürtig sein könnten, rechnet er nicht. Stattdessen erfindet er dem fremdgehenden Abteilungsleiter eine Ehefrau und eine Geliebte, die beide in komischer Arglosigkeit und Vertrauensseligkeit brillieren. Logische, oder wie hier: logistische Unstimmigkeiten und Flachheiten können sich große Romane locker erlauben. Sie verstimmen aber in Büchern wie diesen, eben weil sie die Logistik, der sie folgen, so ostentativ hervorkehren.

Eine Figur setzt sich in einen Zug und landet in einem Tunnel, der die Form eines Albtraums annimmt. Mit diesem Dürrenmatt-Modell schickt Kehlmann seine Figuren gern ins Unheil. In der Geschichte "Osten", in der eine prominente Kriminalromanschriftstellerin in einem fernen asiatischen Land verschollen geht, nachdem der Akku ihres Handys ausgefallen ist, beherzigt er zudem den Rat Dürrenmatts, eine Geschichte sei erst dann zu Ende erzählt, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen habe.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wem gelingt, was Kehlmann misslingt.

Aber das Schlimmstmögliche hat hier wenig Gewicht und wenig Wucht. Denn es stößt Figuren zu, die ihrerseits wenig Gewicht haben. Sie leiden nicht wirklich, sie besitzen keine Schärfe und eigentlich auch keinen Charakter. Das hängt mit der zweiten Schwäche dieses Buches zusammen: Sein großer Aufwand an Verrätselung und Maskenspiel mündet auf paradoxe Weise in die vollkommene Geheimnislosigkeit der dargestellten Welt und ihres Personals. Eine Hauptlast der Verrätselungen hat der Schriftsteller Leo Richter zu tragen, den Kehlmann als eine Art alter ego eigens erfunden hat, damit er das Täuschungs- und Illusionspotential der Literatur vorführt.

Dieser Leo Richter ist als Figur der Lebensuntüchtigkeit, der Verkapselung der Literatur in sich selbst gezeichnet. Er macht in der Geschichte "Gefahr" eine Autorenreise durch Mittelamerika, bei der eine etwas müde Satire auf Goethe-Instituts-Mitarbeiterinnen und Leser abfällt, die dumme Fragen an Autoren stellen. Er ist zudem Autor mindestens einer der neun Geschichten, die in diesem Band versammelt sind. Sie heißt "Rosalie geht sterben". Darin feilscht am Ende die krebskranke alte Frau, die sich in die Schweiz aufgemacht hat, um mit Hilfe einer einschlägigen Organisation in Zürich ihrem Leben ein Ende zu setzen, es sich aber in letzter Minute anders überlegt, mit ihrem Erfinder Leo Richter um ihr Leben.

Wenn der ihr vorhält, sie sei doch eigens zu dem Zweck erfunden, in den Tod zu gehen, und im übrigen sei sie ja nur fiktiv, oder wenn er sich über eine in der Geschichte auftauchende Figur wundert, die er selber nicht vorgesehen hat, dann liegt die Pointe natürlich darin, dass Leo Richter seinerseits ja nur erfunden ist, von einem Erzähler, der wiederum etc. etc.

Es mag sein, dass dieser Leo Richter nur dazu da ist, die ausgelaugten "postmodernen" Spielereien zu parodieren, die immer noch Italo Calvinos Roman "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" nachbuchstabieren. Jedenfalls ähnelt die Geliebte, die er auf Erzählebene 1 hat und die auf keinen Fall für seine Literatur benutzt werden will, auf fatale Weise einer seiner Erfolgsfiguren auf der Ebene 2, der Ärztin, die sich in den Krisen- und Katastrophengebieten der Welt nützlich macht.

Wenn in der letzten Geschichte die Erzählebenen 1 und 2 zusammengeführt werden, wird Leo Richter, der seine Rolle als "zweitklassiger Gott" ausgespielt hat, das Buch verlassen. Aber das Ausgelaugte hat da längst schon auf das Buch übergegriffen, das der erstklassige Autor Kehlmann geschrieben hat. Spätestens, seitdem er zusätzlich zu Leo Richter noch einen weiteren eigens dazu erfundenen Autor in den Dienst der Literatursatire stellt: Miguel Auristos Blancos, einen Paolo Coelho ähnelnden Verfasser von Bestsellern, in denen weichgespülte Fragmente aus Philosophie und Religion zur globalen Wellness-Kultur beitragen.

Dieser Auristos Blancos ist, auch wenn er in einem Blackout von Hellsicht seine Wohlfühl-Literatur widerruft, nur eine mäßig interessante Abwatsch-Figur, nicht anders als der Mitarbeiter in der Telekommunikationsfirma, der den Nummerntausch verbockt hat, weil er wieder mal damit beschäftigt war, unter Pseudonym unausgegorene Aufsätze und autobiographische Prosa ins Netz zu stellen. Mehr als eine verkorkste Mutterbeziehung und die Rollenprosa, mit der Kehlmann ihn zu einer Satire auf den Netzjargon nutzt ("ich poste viel bei Supermovies, auch bei literatur4you" etc.) hat er nicht zu bieten.

Nein, dies ist kein bedeutendes Buch, kein großer Wurf, bei dem aus neun Geschichten das Ganze eines Romans entsteht. Denn es gelingt ihm nicht, ein Äquivalent für die Ortsbindung und atmosphärische Dichte zu finden, die in einem modernen Klassiker des Genres wie Sherwood Andersons "Winesburg, Ohio" (1919) die disparaten Erzählungen und Figuren zusammenschließt. Es bleibt in "Ruhm" bei der logischen Verknüpfung der Geschichten: was der Figur in einer Geschichte widerfährt, erhält in einer späteren seinen Ort in der Kausalkette der Ereignisse oder umgekehrt.

Der Verstand des Lesers mag seinen Spaß dabei haben, die Rätsel aufzulösen, die ihm dieses Buch aufgibt. Verlässlich arbeitet darin die leichte Hand eines Erzählers, der nie um einen Einfall und eine überraschende Wendung verlegen ist. Die Dämonen aber, die Abgründe und Alpträume, die es zu enthalten behauptet, enthält dieses Buch nicht. Ihm misslingt, was derzeit im deutschen Kino Christian Petzold gelingt, von "Wolfsburg" über "Yella" bis "Jerichow": Gespenstergeschichten zu erzählen, die auf dem technologischen Niveau der Gegenwart angesiedelt und Figuren des deutschen Alltags in Schrecksekunden bannen.

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SZ vom 16.1.2009/korc
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