Dagmar Leupold: "Dagegen die Elefanten!:Zarter Stoff

Dagmar Leupold: "Dagegen die Elefanten!: Sollen sich die Menschen mal zum Vorbild nehmen: die Sanftmütigkeit der Elefanten.

Sollen sich die Menschen mal zum Vorbild nehmen: die Sanftmütigkeit der Elefanten.

(Foto: imago images/MyLoupe\UIG)

Ideal für eine trostlose Zeit: Dagmar Leupold erzählt vom Mann an der Operngarderobe und anderen kleinen Rädchen in der gut geölten Mechanik des Bildungsbürgertums.

Von Christoph Schröder

"Ratschkath'l", so heißt die Kneipe an der Ecke, in der Herr Harald sich gelegentlich aufhält. Gelegentlich heißt in seinem Fall: etwa dreimal in zwei Jahrzehnten. Die letzten Anlässe waren Trauerfälle; nun gilt es eine Geburt zu feiern, allerdings keine menschliche. Wie fast jeden Abend nach Dienstschluss hat Herr Harald sich einen Tierfilm angesehen, dieses Mal wurde gezeigt, wie ein Elefant zur Welt kommt.

Alles hat Herr Harald registriert. Das Auge der Mutter in Nahaufnahme, aus dem eine Träne in Maximalvergrößerung über die schorfige Haut der Elefantenkuh rinnt. Das 114 Kilogramm schwere Baby, das zur Erde plumpst. Die Sanftmütigkeit, den die Riesentiere im Umgang miteinander an den Tag legen. Danach ist Herrn Harald nach einer Cola. Also das "Ratschkath'l", wo vier grölende Männer am Stammtisch die weibliche Bedienung mit unfeinen Zurufen belästigen. Herr Harald geht auf den Stammtisch zu. "Dagegen die Elefanten!", sagt er nur zu den betrunkenen Zechern, leert seine Cola, lässt ein großzügiges Trinkgeld zurück und geht, denn mit diesem Halbsatz ist für die Situation alles und über Herrn Harald selbst bereits sehr viel gesagt.

Dagmar Leupold ist eine thematisch wandlungsfähige, sprachlich feinsinnige Schriftstellerin, die schon immer ein Faible für Außenseiter hatte. So konsequent, möglicherweise gar radikal wie in ihrem neuen Roman hat sie sich allerdings noch nicht einem Jedermann gewidmet; einem vermeintlichen Durchschnittstypen, der mit der ihm eigenen Empathie von der Peripherie aus auf den Alltag schaut und dabei so nahe herangeht, dass es ihm selbst hin und wieder vor den Augen verschwimmt. Was das Leben zum Abenteuer und ein banales Vorkommnis zum Ereignis macht, ist einzig und allein eine Frage der Haltung und der Perspektive. Herr Harald hat, wie es heißt, erst nach Dienstschluss einen Nachnamen, doch den erfahren wir nicht. Noch nicht einmal, ob er wirklich Harald heißt. Seinen Dienst verrichtet er gewissenhaft an der Garderobe des Opern- und Konzerthauses einer deutschen Stadt. Er nimmt Mäntel entgegen und gibt Nummern aus. Stunden später der umgekehrte Vorgang.

Dagmar Leupold: "Dagegen die Elefanten!: "Welches Leben ist schwieriger, das mit oder ohne Lebensmut?": Die Schriftstellerin Dagmar Leupold.

"Welches Leben ist schwieriger, das mit oder ohne Lebensmut?": Die Schriftstellerin Dagmar Leupold.

(Foto: Volker Derlath)

Von Beginn an dreht Dagmar Leupold die Blickrichtung: Was hinter den Türen, die sich Abend für Abend vor Herrn Haralds Augen schließen, dargeboten wird, ist nicht von Belang. Das Foyer wird zur Bühne, die Kleidung der Opernbesucher zur Requisite. Herr Harald ist ein Mann mit feinem Sensorium. Am Geruch der Mäntel "erkennt er den Unterschied zwischen Reichtum und Behauptung." "Dagegen die Elefanten!" ist voller treffender Detailbeobachtungen, die sich zu einem autonom funktionierenden Kosmos zusammensetzen. Der Filter des Einzelgängers schärft die Wahrnehmung. Zugleich führt der zum Nebensächlichen hin verrückte Blick dazu, dass das Abseitige wie selbstverständlich an Relevanz gewinnt.

Aus der literarischen Eleganz und ungeheuren Sympathie, mit der Dagmar Leupold ihre Figur durch ein Jahr begleitet, von Februar bis Februar, erwächst ein Plädoyer für das Schrullige. Und für eine Sehnsucht nach Friedlichkeit und Schönheit: Die Fähigkeit, andere Menschen in Ruhe lassen zu können, ist eine Charakterstärke. Das Bartleby'sche "I would prefer not to" findet ein Echo in Herrn Haralds "Lieber nicht."

Dagmar Leupold: "Dagegen die Elefanten!: Dagmar Leupold: Dagegen die Elefanten! Roman. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2022. 266 Seiten, 23 Euro.

Dagmar Leupold: Dagegen die Elefanten! Roman. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2022. 266 Seiten, 23 Euro.

(Foto: Jung und Jung Verlag)

Herr Harald führt ein Notizbuch, in dem er Worte sammelt, deren Klang oder Doppeldeutigkeit ihn beschäftigt. "Dachhimmel" ist so ein Wort; Herr Harald liest es in einer Autozeitschrift. Es wäre ein Irrtum, diese Figur als harmlos abzutun. Indem er einzelne Worte auf ihre Sinnfälligkeit abklopft, entwickelt Herr Harald durchaus Widerstände. Zugleich ist Dagmar Leupolds Nah-Nahsicht auf ihren Protagonisten ein Akt des Respekts. Herr Harald, ein kleines, scheinbar bestens geöltes Rädchen in der Mechanik des Bildungsbürgertums, eine Servicekraft ohne einen Namen, wird nicht nur vorsichtig mit Sprache ummantelt; er wird vor allem dadurch überhaupt erst sichtbar. Keine Rede davon, dass "Dagegen die Elefanten!" die Lebensumstände des Herrn Harald als Idylle zeichnete. Die Einsamkeit schimmert durch. Das Leben muss geordnet werden, um bewältigt werden zu können. Die Aufrechterhaltung der fragilen Balance wird zum eigentlichen Sinn - "der Tag ist der Gegner, den es zu bezwingen gilt."

Und es geschieht auch einiges: Es gibt beispielsweise eine Frau, die bei Klavierkonzerten neben dem Künstler steht und umblättert. Herr Harald interessiert sich durchaus für sie, ohne jemals ihren Namen zu erfahren. Während drinnen die Vorstellungen laufen, stellt Herr Harald sich draußen Quizfragen: "Welches Leben ist schwieriger, das mit oder ohne Lebensmut?" Eines Tages bleibt ein Mantel hängen, in dessen Tasche Herr Harald eine Pistole findet. Eine Schreckschusspistole, wie er herausfindet. Im Oktober läuft ihm eine Katze zu, tagesweise jedenfalls. Voll Erstaunen nennt er das Tier "Nanu", dabei bleibt es. Die Motive und Szenen sind in Dagmar Leupolds melancholischem, ironischen Roman fein verwoben.

Was ein Ereignis ist und was nicht, ist doch wirklich subjektiv: "Das Auffinden des eigenen Pyjamas unter der Bettdecke ist wie jeden Abend tröstlich. Da hat ihn jemand erwartet - und nicht bös überrascht." "Dagegen die Elefanten!" ist ein zarter Roman in einer trostlosen Zeit.

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