Dag Nikolaus Hasses Essay "Was ist europäisch?":Gegen den Hochmut der Vernunft
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Dag Nikolaus Hasse hat ein anregendes kleines Buch verfasst zur großen Frage "Was ist europäisch?"
Von Gustav Seibt
In einer mitreißenden Rede zur "Idee Europas" verknüpfte George Steiner diese 2004 ganz wesentlich mit der Einrichtung des Kaffeehauses: "Solange es Kaffeehäuser gibt, solange hat die europäische Idee einen Inhalt." Wie sympathisch! So zivil, lässig, niedrigschwellig, gleichzeitig doch so traditionsreich, literarisch, urban - man denkt unwillkürlich an Wien und Paris, an Karl Kraus und das Paar Sartre-Beauvoir. Sogar Emanuel Macron zitierte Steiners Motiv. Dumm nur, dass das Kaffeehaus eigentlich eine muslimisch-orientalische Erfindung ist, die in der frühen Neuzeit von Mekka und Kairo über Damaskus und Istanbul nach Venedig und Wien importiert wurde, ein klassisches Beispiel von Kulturtransfer.
Dag Nikolaus Hasse, der dieses Beispiel in einem sehr anregenden kleinen Buch zur großen Frage "Was ist europäisch?" zitiert, ist Mittellateiner und Arabist mit Spezialisierung auf Wissenschaftsgeschichte. Das prädestiniert ihn zu präzisen Gegenrechnungen, wenn die großen Europa-Gleichungen aufgemacht werden. Es sind Gleichungen, die einen geographischen Raum mit "Ideen", moralischen und kulturellen "Werten" und bestimmten Traditionen in eins setzen, um daraus ein Angebot zur Identifikation zu gewinnen. Vom Atlantik bis zum Ural, vom Bosporus bis Gibraltar sollen große Synthesen - Athen, Rom, Jerusalem - oder zivilisatorische Errungenschaften - Aufklärung, Vernunft, Menschenrechte, Gewaltenteilung - gewonnen und vorherrschend geworden sein.
Dringend nötig für unsere Vorstellungen von Europa sind Entkolonialisierung und Entromantisierung
Dabei kommen kanonische Listen von Büchern und Kunstwerken, aber auch von Praktiken und Institutionen heraus, die "Europa" ausmachen sollen. Doch die Gleichungen gehen nicht auf, zeigt Hasse. Entweder decken diese ideellen Konglomerate nicht den ganzen europäischen Raum ab, oder sie sind nicht exklusiv europäisch. Das mag als Ergebnis trivial sein, interessant ist aber, wie Hasse dies auf schmalem Raum äußerst faktenreich ausbuchstabiert.
Hasse ordnet seine Argumente unter den Oberbegriffen von "Entkolonialisierung" und "Entromantisierung", beide für ihn dringend fällig für die Vorstellungen von Europa. Entkolonialisierung meint dabei den Abbau des Vernunft-Hochmuts gegen vermeintlich weniger aufgeklärte Kulturen und Weltteile, die auf diese Weise exotisiert werden - der berüchtigte "Orientalismus" ist das eklatanteste Beispiel. Hier hat der Kenner arabischer und indischer Wissenschaft, der Liebhaber chinesischer Überlieferungen ein leichtes Spiel. Auch beerbt solche aufklärerische Selbstüberhebung nur die religiöse Frontstellung der späten Türkenkriegszeit um 1700. Doch sie wirkte in den missionarischen Zügen des europäischen Kolonialismus nach, im Gegensatz von "Wilden" und "Zivilisierten".
Der Aufklärung folgten romantische Traditionsbildungen, die Europa wieder als Christenheit definierten, jedoch weniger konfessionell als kulturell und ästhetisch. Das steigert sich zum "abendländischen" Athen-Rom-Jerusalem-Mythos, der Verbindung griechischer Kunst und Wissenschaft mit römischem Recht und Staat sowie den christlichen Vorstellungen von Nächstenliebe und Menschengleichheit vor Gott. Großer Akkord, tief heruntergedrücktes Pedal.
Doch "Jerusalem" oder genauer "Golgatha" beerbt den Alten Orient. Die griechische Kultur hinterließ ihre meisten Spuren in den Wüstensäumen vom Zweistromland bis Nordafrika, schon ihre Quellen verdankten sich orientalischen Wanderexperten, die Alphabetschrift und Mathematik brachten. "Rom" griff das auf, regierte jedoch auch in Afrika und im Vorderen Orient. Und "Nächstenliebe", ethische Reziprozitätsvorstellungen lassen sich in zahlreichen außereuropäischen Kulturen von Indien bis Afrika nachweisen. Am Ende zeigen die suggestivsten Europafeiern - Hasse stellt neben Steiner noch Milan Kundera und Rémi Brague vor - immer nur partikulare Ausmalungen von individuellen geistigen Heimaten. Der Katholik Brague schließt das Luthertum aus, der Tscheche Kundera den orthodoxen Osten. Vom reichen europäischen Islam ist da noch gar nicht die Rede.
Doch manche von Hasses Siegen sind zu leicht. Denn man könnte ja argumentieren - und hat es getan -, die Besonderheit Europas bestehe gerade in der Spannung von Einheit und Vielfalt, beispielsweise in seinem vielgliedrigen neuzeitlichen Staatensystem, seiner damit verknüpften Multikonfessionalität, also eher einer Struktur als einem Ideengebäude. Und wenn Hasse gegen das Zerrbild vom religiösen Absolutismus im Islam festhält, dieser habe nie geistliche Herrschaften nach Art der europäischen Kirchenstaaten gekannt, dann könnte die Antwort lauten: Gerade die Verkirchlichung der Religion in Europa (also ihr Römisches) habe die Voraussetzungen für Trennungen und Säkularisierungen geschaffen: Mit einer Kirche kann man Verträge schließen, mit einer in die Lebenswelt verflochtenen Religion eher nicht. Und die Verrechtlichung der Trennung erleichtert dann auch die Befreiung der Lebenswelten von religiösen Vorgaben, man denke an Frauen- und Schwulenemanzipation. Damit wäre man bei Heinrich August Winklers Begriff vom "Westen", mit dem Hasse sich gar nicht beschäftigt.
Kulturelle Verschmelzungen und Leitkultur lehnt Hasse ab, er plädiert für Abkühlung
Was ist sein Gegenentwurf? Hasse möchte zu einem räumlichen Europa-Begriff zurückkehren, wie ihn das Mittelalter schon einmal hatte. Doch zugleich möchte er die Räume pluralisieren, als Gebiete verschiedenster kultureller Praktiken. Als Beispiele nennt er die ionische Säulenordnung (bis zum Ganges verbreitet), die Sonatensatzform in der Musik (zunächst in Österreich, Ungarn, Deutschland), die medizinische Vier-Säfte-Lehre (von Tibet bis ins lateinische Europa) oder die sephardische Aussprache hebräischer Gebete, die sich über Südfrankreich bis nach Tripolis ausdehnte. Alle diese Räume sind nicht deckungsgleich, die Ränder werden offen, die Überlappungen schier unendlich.
Das läuft auf eine enorme Kanonerweiterung heraus - weg vom Steiner'schen Proust-Musil-Beethoven-Europa zu ganz anderen Mischungen, zu denen auch nordischer Heavy Metal zählen könnte. Die Einheit solcher Vielfalt sieht Hasse am Ende in den schon immer vorhandenen Vielvölkerstädten vorgelebt. Hasse nennt sie ausdrücklich nicht "multikulturell", weil das Verschmelzungen suggerieren würde, die er ebenso vehement ablehnt wie die Vorstellung einer hegemonialen "Leitkultur". Hasse präferiert die kühle Vorstellung eines rechtlich geordneten "Nebeneinanders", in dem nicht "Loyalitäten", sondern "Verpflichtungen" das Zusammenleben der Verschiedenen sichern. Auf diese Unterscheidung Judith Shklars läuft seine Abhandlung hinaus.
Ein Europa als Rechts-, nicht als Wertegemeinschaft ist Hasses Resultat, das kein noch so kleines Überlieferungsstück verloren gehen lässt, die eigenen geistigen Potenziale nicht beschränkt und die fremder Kulturräume nicht ausschließt. Unterschiedenes bleibt gut. So wird "Europa" von einem warmen zu einem kalten Begriff. Aber wie das so ist im orientalisch-europäischen Café: Hier dürfte das Gespräch in die nächste Runde gehen.