Dänische Literatur:Köter und Klavier

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Ein dänischer Minimalist: Thøger Jensens Skizze "Ludwig" aus dem Jahr 2004 erscheint erst jetzt bei uns. Er braucht nur eine lakonische Situation, um das dänische Lebensgefühl, die berühmte "Hygge", aller Gemütlichkeit zu berauben.

Von Kristina Maidt-Zinke

"Dänen lügen nicht" heißt eine unsterbliche Schlagerparodie von Otto Waalkes, der nun auch schon seinen Siebzigsten feiern durfte. Ein Stück jünger, aber kaum weniger schlitzohrig ist der dänische Autor Thøger Jensen, dessen Roman "Ludwig" aus dem Jahr 2004 erst jetzt bei uns angekommen ist. Genau genommen handelt es sich um Kurzprosa mit einem durchlaufenden, spinnwebfeinen Handlungsfaden, aber Romane sind nun einmal das beliebteste Genre. Der Jütländer Jensen gehört zu jenen Eigenbrödlern, die unbeirrbar dem Minimalismus huldigen. Und wenn der als Roman durchgeht, warum nicht? Dass uns bei dem schmalen Buch sogleich der Uralt-Schabernack von Otto einfällt, hat indes ganz seriöse Gründe.

Erstens macht der Protagonist, ein Däne in den Dreißigern namens Niels Christian Winckler, einen so offenherzigen und soliden Eindruck, dass er die dubiose Behauptung aus der Blödel-Ära leibhaftig zu verkörpern scheint. Auch die übrigen Figuren zeichnen sich dadurch aus, dass sie unverblümt sagen, was sie denken. Ferner erzeugt die Aussparung alles Überflüssigen, die klare, unaufgeregte Lakonie der Erzählform so etwas wie Entspannung und Vertrauen, ähnlich wie ein Lesesessel in dänischem Design. Schließlich, und das ist der Clou, geht es um Musik von Johann Sebastian Bach, und zwar um die "Inventionen" für ein Tasteninstrument, die der Komponist mit dem Titel "Aufrichtige Anleitung" versehen hat. Niels Christian Winckler hat sich in den Kopf gesetzt, diese Inventionen, an denen er schon viele Jahre übt, bis zu seinem 40. Geburtstag vortragsreif zu beherrschen. Das Projekt hat etwas mit der Erinnerung an seinen verstorbenen Vater zu tun, der ihm einst die Noten geschenkt hat. Niels ist deswegen extra aus Nordjütland nach Århus gezogen, ins Haus des Pianisten Åke Hällevik, dem er eines Tages auf der Fähre von Göteborg nach Fredrikshavn begegnet ist. Er übernimmt bei ihm Hausmeister- und Gärtnertätigkeiten und erhält dafür Klavierunterricht.

In hingetupften Szenen, die selten länger sind als eine Seite und nach einem geheimnisvollen System jeweils mit der Nummer einer Bach-Invention überschrieben, wird geschildert, wie der ländlich sozialisierte Niels das Großstadtleben wahrnimmt. Zum Beispiel so: "Man hört die Lerchen nicht." Oder: "Auf eine Art sind die Autos das für die Stadt, was die Bäume für den Wald sind. Vielleicht ist es das, was ich noch nicht ganz verstanden habe, denkt Niels, ich kann vor lauter Autos keine Stadt sehen." Dafür zeigt er ein Talent für neue Bekanntschaften, vorzugsweise mit Frauen. Die wichtigsten unter ihnen sind die betagte Nachbarin Ásta, die ihm einen Zusatzjob als Gärtner in einem Vorort verschafft, und die junge Ärztin Hanne Lauritzen.

Ásta erinnert fast an Pippi Langstrumpf, wenn sie die Behauptung ihrer kleinen Enkelin, Fische könnten doch wohl nicht fliegen, widerlegt, indem sie eine Fischfrikadelle in die Luft wirft. Hanne Lauritzen besitzt einen Alfa Romeo, in dem sie mit dem führerscheinlosen Niels die Umgebung erkundet, und sinniert gern über den Tod. Niels ist ihr aufrichtig zugetan, aber als sie ihm einmal gesteht, wie sehr sie ihn vermisst, wenn er nicht da ist, kann er nur antworten: "Ich vermisse dich zuweilen durchaus auch." So hört sich das eben an bei Dänen, die nicht lügen. Und wer ist Ludwig, die Titelfigur? Jetzt wird es schräg. Ludwig ist der Schäferhund, den Åke Hällevik sich mit seiner Exfrau teilt. Beim Klavierunterricht liegt er unter dem Flügel, stets sprung- und kläffbereit und, wie sich zeigt, auch bissig. Auch die Hundekekse mit Bachblütentropfen, die sie für ihn backt, beruhigen ihn nicht. Niels arrangiert sich mit dem Tier und erfährt irgendwann zu seiner Überraschung, dass es sich bei der Exgattin des Klavierlehrers um Hanne Lauritzen handelt.

In diesem nicht ganz unkomplizierten Beziehungsgeflecht ist Ludwig so etwas wie eine Chiffre. Eine Chiffre dafür, dass unter der gehypten dänischen "Hygge", diesem aus Gemeinschaftssinn, Geborgenheit und Behagen gemischten Lebensgefühl, finstere Abgründe schlummern. Die blutigen Krimis eines Jussi Adler-Olsen, die düsteren Filme eines Thomas Vinterberg behandeln das Thema in epischer Breite. Thøger Jensen, der Minimalist, begnügt sich mit einer einzigen, sparsam skizzierten Situation, die uns den netten Bach-Spieler Niels blitzartig von einer anderen Seite zeigt. Der Leidtragende ist Ludwig. Und wenn man sich dann den Text des bescheuerten Otto-Liedchens noch einmal anschaut, muss man feststellen, dass es darin weniger um die Wahrheitsliebe der Dänen geht als um ihre Schlagkraft.

Ein wenig makaber, das alles, besonders für Hundefreunde. Aber auch hintersinnig komisch. Und es ist phänomenal, wie viel ein Schriftsteller erzählen kann mit dem, was er weglässt. Auf weniger als hundert Seiten findet er sogar noch Platz, um seinen Helden auf eine Reise nach Rhodos zu schicken. Im Anhang führt er gewissenhaft seine Zitatquellen auf, drei an der Zahl. Denn Schlitzohrigkeit und Ehrlichkeit schließen einander nicht aus, wenn man Däne ist.

Thøger Jensen : Ludwig. Roman. Aus dem Dänischen von Gerd Weinreich. Literaturverlag Droschl, Graz und Wien 2018. 96 Seiten, 18 Euro.

© SZ vom 30.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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