Cristina Lafonts Buch "Unverkürzte Demokratie":Im Reagenzglas

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Die spanische Philosophin Cristina Lafont will eine Debattenlandschaft beruhigen, die von radikalen Gesten und Hilflosigkeit: geprägt ist: Schild bei einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung im Mai 2020 in München. (Foto: Sebastian Gabriel)

Die Philosophin Cristina Lafont hat eine Idee zur Rettung der Demokratie.

Von Thomas Meyer

Es kommt nicht so häufig vor, dass in den begrifflich hochgerüsteten Diskussionen über die Zukunft der Demokratie zahlengestützte Studien einbezogen werden. In der Regel halten Theoretiker und Empiriker Abstand voneinander. Doch die Grenze fällt, wenn auch ganz langsam. Favorit in beiden Lagern ist gerade das immense Material, das der von Präsident Emmanuel Macron 2019 initiierte "BürgerInnenkonvent zum Klimaschutz" in einem 460 Seiten langen Abschlussbericht vorlegte. Natürlich wurde der Bericht, wie viele andere Daten, sofort im Netz der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt.

Bereits im Vorfeld wurde öffentlich genauestens Buch darüber geführt, wie viele Emails, Diskussionsbeiträge und vieles andere mehr zwischen den 150 per Los bestimmten Franzosen, 300 000 hatte man ursprünglich angeschrieben, zwei Drittel zeigten kein Interesse, und staatlichen Institutionen gewechselt wurden. Am Ende standen insgesamt 177 Vorschläge für gesetzliche Änderungen, die ausführlich begründet und kontextualisiert wurden. Seitdem gibt es nicht nur in Frankreich eine rege und kontroverse Debatte über Fragen der Umsetzbereitschaft innerhalb der politischen Systeme und Klassen, wenn sie mit konkreten Forderungen vom Souverän, dem Bürger, konfrontiert werden. Eine kluge Untersuchung der Pariser Filiale der Friedrich-Ebert-Stiftung dazu liegt seit April vor.

Weder die Feier der Volkssouveränität noch die Sehnsucht nach Expertokratien lösen die Demokratieprobleme des Westens

Aber sie waren bei weitem nicht die ersten. Die in Yale lehrende Hélène Landemore nutzte Teile des Materials 2020 bereits für ihr Buch "Open Democracy", um ihre Demokratien-Vorstellungen voranzubringen. Da auf dem Deutungsmarkt Schnelligkeit ein immer wichtigeres Kriterium wird, verband Landemore die Pariser Umfrage mit der Idee der "Mini Publics", einer seit gut 25 Jahren praktizierten Form kleiner basisdemokratischer "Öffentlichkeiten", die im Kleinen Themenbezogen durchspielen, was dann im Großen ein Muster für demokratische Prozesse abgeben könnte.

Schnell war man begeistert und ist es zum Teil immer noch: "Mini Publics" seien das Reagenzglas, in dem beobachtet werden könne, wie Bürgerinnen und Bürger agieren, Konflikte austragen und dann ganz konkrete Lösungen für drängende Probleme abliefern. Recht bald war in der üblich gewordenen "Insel"- und "Leuchtturm"-Rhetorik die Rede von einer neuen Chance der Demokratie. Aber in der Demokratie, selbst in der angeblich so alten und überforderten Form der repräsentativen, ist nichts ohne einen Preis zu haben: Die so schönen "Mini Publics" hingen stets am Tropf der staatlichen Auftraggeber und die verweigerten bislang in nahezu allen Fällen einen von Institutionen abgesicherten Weg, in etablierte Gesetzgebungsverfahren eingebunden zu werden und so aus den Vorschlägen andere Wirklichkeiten entstehen zu lassen. Sind die "Mini Publics" also doch bloß ein "Feigenblatt", wie so mancher meint?

Cristina Lafont: Unverkürzte Demokratie - Eine Theorie deliberativer Bürgerbeteiligung. Aus dem Englischen von Bettina Engels und Michael Adrian. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 448 Seiten, 34 Euro. (Foto: N/A)

Diese Vorgeschichte kann hilfreich sein, wenn man sich dem neuen Buch der in Frankfurt über Heideggers Sprachdenken promovierten, in den USA lehrenden Cristina Lafont nähert. "Unverkürzte Demokratie" lautet der Titel ihrer Studie, die man in Ruhe lesen sollte. Denn sie versucht Ruhe in eine Debattenlandschaft zu bringen, die sich einerseits durch radikale Gesten und andererseits durch Hilflosigkeit auszeichnet.

Worum also geht es? Der erste Teil des Buches mag noch abschrecken, denn die Autorin begibt erst einmal auf eine Metaebene, um die Diskussionslandschaft zu überblicken. Der Auseinandersetzung mit Landemore und den "Mini Publics" kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Für den Vorstoß zu den eigenen Rezepten für den Patienten Demokratie werden von Lafont vornehmlich drei unbefriedigende Modelle aus dem Weg geräumt: Weder die Feier der "wildgewordenen Volkssouveränität" (Ingeborg Maus) noch die Sehnsucht nach Expertokratien lösten die Demokratieprobleme der Gesellschaften des Westens. Und auch diejenigen, die auf das gute alte, weil antike Losverfahren setzen, finden Lafonts Zustimmung nicht.

Sie setzt hingegen auf das Modell der "deliberativen Demokratie", also einem Modell, das seit 40 Jahren ohne definitorische Eingrenzung auskommt und gerade deshalb inhaltlich mit guten Gründen reizvoll erscheint. "Beraten" und "erwägen" mögen die Übersetzungen von "deliberativ" sein, doch Lafont fügt eine weitere systematische Note hinzu: "wohlüberlegt". Der Ausformulierung dieses fragil scheinenden Kriteriums gilt der zweite Teil der "Unverkürzten Demokratie".

Darin lässt sich der mühevolle Umgang mit komplexen, pluralen Gesellschaften nachvollziehen, deren Entgrenzungswille jedwede begriffliche Einhegung zum Scheitern zu verurteilen scheint. "Wohlüberlegt" müssen Aushandlungsprozesse sein, die Raum bieten, aber nicht in Beliebigkeit ausufern. "Wohlüberlegt" müssen Überführungen in bereits institutionalisierte oder noch zu schaffende Verfahren sein, die auf Konsens beruhende Vorschläge verstetigen möchten. Und "wohlüberlegt" muss sein, wann die Demokratie wehrhaft werden muss.

Lafonts Katalog arbeitet mit starken normativen Vorgaben und wirkt angesichts der aktuellen Lage fast schon nostalgisch. Aber in Zeiten der sinnlosen und offensichtlich nur von Denkentlastungsbedürfnissen angetriebenen Verabschiedung der großen politisch-philosophischen Traditionen von Platon über Kant bis hin zu John Rawls, ist ein wohlüberlegtes Plädoyer für eine vernunftgeleitete Idee von Demokratie sehr willkommen.

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