Süddeutsche Zeitung

"Crimes of the Future" im Kino:Es gibt Hoffnung, aber nur für die Monster

David Cronenbergs finstere Menschheitsvision "Crimes of the Future" wird als Meisterstück des Kinos gefeiert. Zu Recht?

Von Philipp Bovermann

Weil David Cronenberg ein Filmemacher ist, bei dem sich nichts, aber auch wirklich gar nichts von selbst erklärt, lohnt sich gleich zu Beginn eine Abschweifung ins Jahr 1970. Cronenberg war damals 27 Jahre alt und drehte den Film "Crimes of the Future" auf dem Gelände der Universität von Toronto. Junge Männer tun darin lauter merkwürdige Dinge, einer leckt seine Brille ab, während aus dem Off eine pflaumensüße Männerstimme vom Dermatologen Adrian Tripod erzählt, dem Leiter des "House of Skin", von metaphysischen Experimenten, einer mysteriösen Seuche und einem Pädophilen-Ring, der ein fünfjähriges Mädchen schwängern will, um die Menschheit zu retten. 65 Minuten nackter Wahnsinn, gleichzeitig langweilig und verstörend, kaum auszuhalten.

Von diesen Anfängen hat er sich nie ganz entfernt. Er blieb immer ein bisschen der weirdo von "Crimes of the Future", aber David Cronenbergs Karriere ging über die Jahrzehnte trotzdem stetig nach oben. Der neueste Film des 79-Jährigen lief dieses Jahr im Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes, wo die Elite der Branche ihn beklatschte und feierte. Er heißt: "Crimes of the Future".

Wer deshalb ohne Vorkenntnis, was einen erwarten könnte, in den Film spaziert (ohne Googeln vor dem Filmplakat, früher machte man das ja gelegentlich so), dem stellen sich Fragen. Zum Beispiel: Warum ist alles in diesem Film, selbst die Büroräume des "Nationalen Organregisters", so extrem dreckig, mit surrenden Fliegen auf der Tonspur? Warum besteht der Stuhl namens "BreakFaster" aus offenbar organischem, lebendigem Material, ohne dass das weiter thematisiert wird? Und was machen Viggo Mortensen und Léa Seydoux in diesem, pardon, spleenigen B-Movie? Nichts gegen spleenige B-Movies! Man wundert sich halt.

"Operieren ist der neue Sex", lautet das Motto der Bewohner dieses Films

Zwischen den beiden gleichnamigen Filmen besteht eine unheimliche Beziehung: Der von 1970 wirkt wie ein luftleeres, feindliches Bergwerk, voll von ungeschürften Ideen für Cronenbergs bis 1999 entstandene Filme ("Crash", "Die Fliege", "Videodrome", "eXistenZ") - sie erfanden und prägten das Genre des intellektuell anspruchsvollen Körperhorrors. Der aktuelle Titel hingegen ruft nun zwanzig Jahre später sämtliche der damaligen Leitmotive nochmal auf. Cronenbergs Filme dieser frühen Schaffensphase erzählen von mutierenden Körpern. Es sind Geschichten von namenlosen, zweifellos sexuellen Bedrohungen, die von innen heraus die Leiber zerfressen, sie verwandeln und in den Schnittwunden der atmenden, dampfenden, wuchernden Wirklichkeit den Blick auf eine zukünftige Erlösung öffnen - aber als Mensch wird man sie wohl nicht mehr erleben. Es gibt Hoffnung, aber nur für Monster.

Im aktuellen "Crimes of the Future" bilden sich neue Organe in den Körpern, sie sehen rätselhaft aus und haben erst einmal keine Funktion, aber offenbar passiert da etwas - der Staat ist alarmiert. Er drängt die wuchernden Leiber in den Untergrund und überwacht sie durch eine Polizeieinheit für "Neue Sünden". Denn was, wenn die Mutationen auf die nächste Generation übertragen und dadurch Teil des Genmaterials werden? Dann wären diese Kinder "keine Menschen mehr, zumindest nicht im klassischen Sinn", sagt der Leiter des "Nationalen Organregisters", das den Wildwuchs kartografieren, die Neuankömmlinge in den Gedärmen registrieren und tätowieren soll. Aber natürlich entgleitet dieser Prozess. Die menschlichen Körper lassen gewissermaßen die Menschheit zurück.

Ein kleiner Junge ist offenbar der Erste dieser neuen, fertig mutierten Generation, er isst Plastik statt organischer Nahrung, deshalb hat seine Mutter "die Kreatur" mit einem Kissen erstickt. Was sie unter der Bauchdecke wohl finden, wenn sie ihn aufschneiden werden? "Nichts von dieser Welt", sagt im Film eine, die es wissen muss.

Cronenberg-Fans taumeln von Höhepunkt zu Höhepunkt, buchstäblich an jeder schlecht beleuchteten Straßenecke wartet der nächste. Die Mutationen haben das Schmerzempfinden ausgeschaltet und Infektionen überwunden, die Menschen operieren lustvoll in den Gassen aneinander herum, mit rostigen Messern im Stehen, um sich gegenseitig an die Organe zu gehen, wenn die "Neue Sünden"-Ermittler gerade nicht hingucken. "Operieren ist der neue Sex", lautet einer der sentenzhaften Sätze in einem von sentenzhaften Sätzen übersatten Film. Jeder von ihnen könnte als (bisweilen plattes) Motto vor einer Abhandlung über Cronenbergs Körperhorror-Filmästhetik stehen. Zum Beispiel: "Ein Organismus braucht Organisation, ansonsten ist er nur Designer-Krebs."

Man wird den Verdacht nicht los, Cronenberg habe in den vergangenen zwei Jahrzehnten, in denen er psychologischen statt körperlichen Untiefen nachging und dabei ein ganzes Stück in den Mainstream hineinwuchs, einen Karteikasten auf dem Nachttisch gehabt. Als habe er jeden hinreichend rätselhaften - allessagenden, allesandeutenden - Satz, der ihm zu seinen künstlerischen Hauptanliegen einfiel, dort archiviert, um dann ein Drehbuch daraus zu schreiben. Immer wieder theoretisieren die Figuren, was diese körperlichen Veränderungen bedeuten könnten, wodurch sich die Dialoge mal sanft, mal weniger sanft von der Handlung lösen.

Die Wirklichkeit erwacht zum Leben, alles wächst und wuchert und krabbelt und keucht

In seinen schwächeren Momenten, von denen es leider einige gibt, fühlt sich der Film dadurch tatsächlich wie ein würdiger Nachfolger des gleichnamigen No-Budget-Wahnsinns von 1970 an: Cronenberg drehte damals mit einer viel zu lauten 35-Millimeter-Kamera, ohne Tonaufnahmen zu machen, das eigentliche Geschehen verlagerte er in den Erzählkommentar. Der wiederum bestand größtenteils aus metaphysischen Erörterungen der Hauptfigur, des Dermatologen, über die Natur der mysteriösen Seuche, außerdem etwa über die "genetische Geschichte des Fußes, also Tentakeln, Flossen, Schwimmflossen und so weiter". Und über einen Kollegen, in dessen Körper neue Organe ohne Funktion wachsen.

Mit etwas gutem Willen lassen sich diese frühen Texte als Lyrik bezeichnen - aber erst als Cronenberg seine Ideen später filmisch zeigte, statt nur davon erzählen zu lassen, erblühten sie und wurden wirklich Poesie. Jedenfalls hatte der Rezensent, der sich hier so muffelig gibt, bei einem Cronenberg-Film einen jener kostbaren Momente, in denen einen als junger Mensch etwas bestürmt, von dem man intuitiv weiß, dass es einen verfolgen wird, solange man lebt. Nämlich bei Cronenbergs genialer Verfilmung von William Burroughs' Experimentalprosageschütz "Naked Lunch": Da haucht eine Junkie-Frau, die sich Wanzenpulver in die Venen injiziert, einen Tausendfüßler an, bis er von der Tapete fällt; alienhafte Kreaturen wandeln als Geheimagenten durch die von erotischer Spannung, Sucht und Schreibwollust - die Schreibmaschinen sind riesige Käfer! - durchzogene Halluzination. Die Wirklichkeit erwacht zum Leben, alles wächst und wuchert und krabbelt und keucht.

"Crimes of the Future" fühlt sich nun so an, als gucke man, auf den Hauptfilm wartend, einen nachträglichen Trailer zum Körperhorror-Gesamtwerk aus dem vergangenen Jahrtausend. Der Film ist ein Museum.

Alles wirkt unfassbar alt. Die Wände schimmeln, überall Müll und Verwesung. Nur die Messer eines außerirdisch aussehenden Dissektionsapparats schneiden blank und voller Lust in das Fleisch der Figur von Léa Seydoux, die dort mit dem ebenfalls nackten Viggo Mortensen liegt, dem inzwischen 64-jährigen Cronenberg-Veteranen. Die beiden spielen ein Duo von Performancekünstlern in einer Fetisch-Subkultur rund um die neuen Organe. Sie tätowiert ihm vor ihrem klandestinen Publikum die neuen Organe und schneidet sie anschließend heraus, um die kostbaren Sonderbarkeiten für die Ewigkeit zu bewahren. Aber während sie da zu zweit unter den Messern liegen, schaut keiner zu. "Vielleicht ist das hier nur für uns", sagt sie.

Crimes of the Future, Kanada, UK, Griechenland 2022 2022 - Regie und Buch: David Cronenberg. Kamera: Douglas Koch. Mit Léa Seydoux, Viggo Mortensen, Kristen Stewart, Lihi Kornowski. Weltkino, 107 Minuten. Kinostart: 10.11.2022.

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