"Crack" bei Netflix:Teufelspulver

Lesezeit: 3 min

Der Krieg gegen die Drogen, die Kartelle - hoffnungslos. (Foto: Netflix/Netflix)

Der Dokumentarfilm "Crack: Kokain, Korruption und Konspiration" erzählt von der Drogenepidemie im New York der Achtzigerjahre - und dem Rassismus, der mit ihr verknüpft ist.

Von Andrian Kreye

Die Geschichte der Afroamerikaner ist eine über vierhundertjährige Abfolge der Ungeheuerlichkeiten, die kein Ende nehmen will. Das Schicksal der verschleppten Afrikaner und ihrer Nachfahren ist mit ihrer Musik, ihrer Literatur und in ihren Filmen zu einer universalgültigen Metapher für die Willkür und Boshaftigkeit von Mehrheitsgesellschaften geworden. So auch in Stanley Nelsons Film, der mit einer etwas sensationsgeilen Alliteration betitelt ist. "Crack: Kokain, Korruption und Konspiration". Da weiß man auch in einem Tweet gleich, worum es geht.

Der Unterschied zwischen der Empörung nach einem suchmaschinenoptimierten Tweet und einem Dokumentarfilm wie "Crack" ist der zwischen einem Reflex und einem Lernprozess. Vor allem, wenn der Film von einem Meister der Dokumentation wie Stanley Nelson gedreht wurde. Der macht sich in "Crack" auf die Spur eines Wendepunktes in der Geschichte Amerikas, der in Hollywood sonst meist in der "True Crime"- und Thrillerschiene landet.

Erst einmal erzählt er über die explosionsartige Verbreitung des Derivats aus Kokain und Natron in den Armenvierteln der USA Mitte der Achtzigerjahre. Vor allem die afroamerikanischen Gemeinden wurden von der Welle der Sucht und Kriminialität getroffen, weil das Zeug billig war und gleichzeitig einen bis dahin einzigartigen Suchteffekt hatte, der selbst Heroin übertraf. Zwischen 1984 und 1989 verdoppelte sich dann die Mordrate unter jungen Afroamerikanern zwischen 14 und 24 Jahren. Die deutlich rassistische Gesetzgebung dieser Jahre führte außerdem dazu, dass sich die Zahl afroamerikanischer Häftlinge in den Gefängnissen versechsundzwanzigfachte.

Die fröhliche Mutter im Business-Kostüm verwandelt sich in eine zahnlose Junkie-Mumie

Weil Statistiken aber nur belegen und nicht erzählen können, lässt Nelson die Opfer der Drogenwelle erzählen. Er macht da keinen Unterschied zwischen Dealer und Junkie, zwischen Hinterbliebenen und Tätern. Wenn Tony Taylor davon erzählt, wie sie ihre Persönlichkeit als Dealerkönigin "Miss Tee" hinter ihrem Panzer aus Härte und Rücksichtslosigkeit verlor, bis sie niedergeschossen wurde, ist das genauso herzzerreißend, wie die Passage, in der sich die zahnlose, ausgemergelte Asethea Pierce daran erinnert, wie sie ihre Kinder, ihren Job und ihre Wohnung verlor. Und man die Bilder der damals jungen, fröhlichen Mutter im Business-Kostüm und mit ihren Kindern sieht, während sie heute aussieht wie eine Mumie.

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Drogenfahnder, Politiker, Journalisten, Aktivisten und noch mehr Dealer und Opfer kommen als Zeitzeugen zu Wort. Geistes- und ein Neurowissenschaftler liefern Analyse und Kontext. Es gibt Nachrichtenbilder, Ausschnitte aus den Hip-Hop-Videos von Public Enemy oder KRS One, die den Opfern während der Crackwelle damals so etwas wie eine Stimme gaben.

Wenn Stanley Nelson dann in der zweiten Hälfte das ganze Ausmaß des sogenannten Krieges gegen die Drogen herausarbeitet, hat das Thema schon eine so fundiert menschliche Dimension, dass die Brutalität sehr viel klarer wird, mit der Regierung und Gesetzgeber agierten. Wenn gegen Schluss dann deutlich geworden ist, was für Konsequenzen es bis heute hat, dass der Besitz von Crack nach Gesetzen der Regierungen Bush Senior und Clinton eine vielfach schwerere Strafe nach sich zieht, als der Besitz von Kokain in Pulverform, was es für einen ganzen Teil der Bevölkerung bedeutet, wenn Wahlkämpfer auf ihre Kosten beim Bürgertum Härte zeigen, dann ist das nicht mehr nur die Geschichte der Crack-Welle. Nelson hat mit dem Film eine Analyse des systemischen Rassismus in den USA vorgelegt, die sehr viel tiefer geht.

Von der Crack-Epidemie profitierte letztlich auch die amerikanische Pharmaindustrie - ganz legal

"Crack" ist aber nicht nur eine der vielen wirklich grandiosen Dokumentarfilme, die auf Netflix ein Forum finden. Es ist ein Höhepunkt im Werk eines Regisseurs, der sich schon seit dreißig Jahren mit Rassismus, Menschenrechten und den finsteren Kapiteln in der Geschichte seines Heimatlandes beschäftigt. Der damalige Präsident Barack Obama hat ihm 2013 sogar die National Humanities Medal für seine Arbeit verliehen, den in Amerika angesehensten Preis für Geisteswissenschaften.

Trotz alledem bleibt bei "Crack" wie bei so vielen anderen Netflix-Dokus bei europäischen Zuschauern neben dem Erkenntnisgewinn und der Empörung eine leichte Ratlosigkeit. Denn auch wenn die Geschichte der Afroamerikaner eine Universalgültigkeit hat, fehlt gerade bei solcher Qualität und Tiefe der globale Kontext. Und den gäbe es bei diesem Thema. "Crack" wäre die grandiose erste Folge in einer Dokumentarserie. Die könnte erzählen, wie Crack als erste Designerdroge die Rolle des Rauschs in den Subkulturen dezimierte. Wie Pablo Escobars Kartell mit dem neuen Teufelszeug in den Barrios von Medellín regelrecht Marktforschung betrieb, um die Probanden dann von Sicarios töten zu lassen, weil die Drogenbarone so eine Sucht in ihrer eigenen Stadt nicht duldeten. Wie aus den Drogenschmugglerbanden in Kolumbien und Mexiko Konzerne des organisierten Verbrechens wurden. Wie die Crystal-Meth-Welle den Erfolg der Kartelle demokratisierte und die Wirkung noch übertraf. Wie die Pharmakonzerne das Geschäft daraufhin mit der Opioid-Welle an sich zogen. Und die Wirkung noch einmal übertrafen. Wie eine massenmörderische Schattenwirtschaft entstand, die es bei einem Jahresumsatz von geschätzt 320 Milliarden Dollar mit Nationalstaaten aufnehmen kann. Den Auftakt hat Stanley Nelson aber nun schon mal furios hinbekommen.

Crack: Cocaine, Corruption & Conspiracy, USA 2021 - Regie: Stanley Nelson. Netflix, 90 Minuten.

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