Im Februar 1989 kam Lutz Hachmeister, heute bekannt als Filmemacher, Journalist und ehemaliger Chef des Grimme-Instituts, erstmals an die Côte d'Azur. Die Gegend kam ihm von Anfang an seltsam vertraut vor, die glitzernden Ortsnamen, die sich entlang der Küste aufreihten wie einzelne Gedichtzeilen, die Landschaften und Stadtsilhouetten, die er aus unzähligen Hollywoodfilmen kannte, die Stars, die hier Jahr für Jahr Hof hielten. "In keiner anderen Landschaft der Welt, auch nicht in Kalifornien oder in der Normandie, überlagern und durchdringen Literatur, bildende Kunst und Film alle unmittelbaren Eindrücke und Assoziationen derart."
Vor allem ein Ort tat es ihm damals an: Juan-les-Pins und dort wiederum ein seltsamer, verlassener Kasten. "Kein Hinweis, kein Name an diesem Bauwerk, das aussah wie ein im Wald gestrandeter Ozeandampfer." Ortskundige klärten ihn auf, das leer stehende Gebäude habe einst das schickste Hotel Europas beherbergt.
Hachmeister war seither mehr als hundert Mal an der Côte d'Azur und hat im Verlauf der Jahrzehnte zwei Filme über Juan-les-Pins, seine vermögenden Bewohner und ebenjenes Provençal gedreht, das heute als denkmalgeschützter Architekturkadaver ein geisterhaftes Flair über den ganzen Ort ausstrahlt, ähnlich wie die verlassenen Hotelruinen im Zentrum von Bad Gastein. Jetzt legt er gewissermaßen das Buch zu seinen Filmen nach, ein so kundiges wie anekdotenreiches Buch über diese Gegend und das 20. Jahrhundert.
Prominente, Künstler, Starlets verbrachten hier "eine Zeit von Nichtstun und tausend Partys"
Basislager seiner Erkundungen ist wiederum Juan-les-Pins, der kleine Ort zwischen Antibes und Golfe-Juan, der noch auf einem Monet-Gemälde von 1888 ein menschenleerer, waldumstandener Strandabschnitt war. Doch dann kam der amerikanische Milliardär Frank Jay Gould, Sohn eines räuberischen Eisenbahnbarons, und machte das Dorf zum Gravitationszentrum des angloamerikanischen Jetset, indem er das damals hypermoderne Provençal hochzog, 280 Zimmer, 350 Angestellte, sowie das erste Casino, das auch im Sommer öffnete. So entstand ein "doppeltes Gegenmodell an der Côte - gegen die existierenden Adelsrefugien wie Nizza und Cannes, aber auch gegen den lieblich-friedvollen Midi im Allgemeinen." Eine Art Montparnasse-sur-Mer, Künstlerflair und Avantgarde, Cole Porter und der Kennedy-Clan, Winston Churchill, Lilian Harvey.
F. Scott Fitzgerald schrieb, zahllose Prominente, Künstler, Starlets verbrächten hier eine "Zeit von Nichtstun und tausend Partys", und Klaus Mann nannte Juan-les-Pins 1930 "eine ungefähre Mischung aus Cannes und St. Tropez, das Badekostüm ist wichtiger als Teekleid oder Abendtoilette." Das Sonnenbräunen am Strand wurde hier genauso erfunden wie das Wasserskirennen, die Fitzgeralds frönten dem Alkoholismus, Chaplin lebte seine Affäre mit Mizzi Müller und Picasso stolzierte meist mit nacktem Oberkörper, nach zeitgenössischen Schilderungen "braun wie ein Indianer", durch den Tag. Dieser Hitset zog selbstverständlich sofort die Halb- genauso wie die Unterwelt an, Immobilienmogule, Mafiagrößen, Aufschneider und Playboys.
Hachmeister macht sich mehrfach über das ewige Namedropping einiger Prominenter in ihren Memoiren oder Romanen lustig und spricht recht treffend vom "Glamourtaumel", kann es aber in einigen Kapiteln selbst nicht lassen mit dem Prominentezählen und den Klatschgeschichten, wer nun mit wem, und wessen Immobilie wann an wen überging. Zuweilen stauen sich die Namen im Text wie der Ferienverkehr in der Hochsaison, und es geht einem dann wie Maigret, Georges Simenons missmutigem Kommissar, der in "Liberty Bar" einem Mord an der Côte d'Azur hinterherrecherchiert und dabei vom nachmittäglichen Touristengetümmel so genervt wie befremdet ist: "Maigret musste am Strand entlang um lauter halb nackte Körper herumgehen. Die bronzefarbenen Leiber wurden noch betont durch grellbunte Badeanzüge."
"Le Provençal" ergibt nicht, wie der Untertitel suggeriert, "Eine Geschichte der Côte d'Azur", sondern eben die eine Geschichte eines einzelnen Ortes an dieser Côte, die, wie Agnès Varga es ausdrückte, "eine Gegend und zugleich ein soziologisches Phänomen" war. Zuweilen wünschte man sich weitere Erkundungen, etwa wenn es um die Vichy-Jahre geht, und man weiß, dass im benachbarten Marseille Tausende deutsche Juden, Künstler, festsaßen.
Aber Hachmeister tut am Ende doch gut daran, sich auf den einen Ort zu konzentrieren und dafür dort wirklich tief zu graben. Die stärksten Kapitel behandeln die Kriegsjahre, in denen Juan-les-Pins erst italienisch und dann deutsch besetzt war. Eichmann schickte seine "Bluthunde" Alois Brunner und Kurt Lischka, die überzeugt waren, dass "die Côte d'Azur zu einem Asyl für das Judentum wurde, wie es bisher wohl kaum ein Landstrich in Frankreich gewesen ist", was eher Ausdruck ihrer Paranoia war, als irgendwelchen Tatsachen entsprach.
Milliardärsgattin Florence Gould inszeniert sich dort nach dem Krieg als Großmäzenin
In jener Zeit betrieb Jay Goulds dritte Gattin Florence einen Literatur-Salon in Paris, der wie der Inbegriff des kollaborativen Opportunismus wirkt, Ernst Jünger ist ihr Liebhaber, Céline schaut regelmäßig vorbei, Marcel Jouhandeau, glühender Antisemit, plauderte gern mit anwesenden SS-Granden, die tagsüber die Judendeportationen organisieren. Salonlöwin Gould wurde nach dem Krieg nie belangt, sie inszenierte sich in Paris und Juan-les-Pins als Großmäzenatin, sponserte zwei Literaturpreise und hatte die künstlerische Moderne bei sich zu Gast, Françoise Sagan, Ionesco, Belmondo... Wie diese Frau bei Hachmeister von der mondän funkelnden Amazone zur versoffenen, launenhaften Megäre mit lila getönter Sonnenbrille schrumpft, ist großartig.
Wem all das zu luxusschwelgerisch oder zu vorgestrig sein sollte - einen soziologisch interessanten Kontrapunkt zu Hachmeisters eindrücklichem Jetset-Bilderbogen bildet das aktuelle Reportagebuch "Afropäisch", für das der britische Autor und Fotograf Johnny Pitts das schwarze Europa bereist hat, Pariser Banlieues, die Londoner Hiphop-Szene, ghanaische Expats in Berlin... Pitts, Sohn einer weißen Arbeiterin aus Sheffield und eines afroamerikanischen Soul-Sängers, hat nicht das enzyklopädische kulturhistorische Wissen Hachmeisters, aber seine etwa 80-seitige Reise entlang der französischen Mittelmeerküste, in Bummelzügen, in denen ihn besoffene weiße Briten beleidigen, zu Fuß durch die glühende Hitze des August, ist große Reportagekunst und zeigt eher die Hinterhöfe und Schattenseiten der Gegend.
In Saint-Paul-de-Vence stattet er dem Anwesen einen Besuch ab, auf dem der gefeierte aber erzeinsame James Baldwin seine letzten Lebensjahre verbrachte, in Toulon begibt er sich auf die Spuren Frantz Fanons, der hier 1945, nachdem er für die Franzosen gekämpft hatte, als Schwarzer von den Siegesfeiern ausgeschlossen blieb. All das ist eher beklemmend - aber dann kommt Pitts nach Marseille und fühlt sich erstmals angekommen, inmitten all der "kulturellen Nomaden, die es an diese Küste gespült hatte und die bekifft oder betrunken mit guten Freunden und auf eine irgendwie gleichgültige Art zufrieden hier in der Sonne am Hafen gelandet waren." Eine der merkwürdigsten Leseerfahrungen dieses Sommers: Die Marseiller Szene, die arbeitslose Schwarze in Marseille beschreibt, in denselben Worten, in denen der dekadente Müßiggang der Haute-Volee zuvor bei Hachmeister skizziert wurde.