Süddeutsche Zeitung

Coronavirus:Von der Kunst, zu Hause zu sein

Das Coronavirus zwingt die Gesellschaft in einen Zustand, den der Biedermeier als bürgerliche Tugend prägte. Und der Stille und Alleinsein honorierte.

Von Gerhard Matzig

Wattekugeln, 200 Millimeter im Durchmesser, weiß, Artikelnummer 21-2660202, gibt es noch. Modelliermasse und Malstifte sind ebenfalls vorhanden. Das ist die gute Nachricht vom vergangenen Samstag aus einem Supermarkt, der im Münchner Osten als Drehort für die Eberhofer-Krimis bekannt ist. Dass aber die Kartoffeln ausverkauft sind und sich ungewohnt viele Menschen behandschuht, maskiert und nervlich angespannt durch die übervollen Gänge winden - das ist die schlechte Nachricht. Krimis sind derzeit kaum nötig, um einen Thrill zu erzeugen, der zwischen Sorge und Hysterie nistet.

Es wäre naiv, wenn man nicht annähme, dass dem Bastelbedarf in absehbarer Zeit genau das droht, was das Sortiment zwischen Kartoffeln und Klopapier schon partiell ereilt hat. Nämlich zur mitunter seltsamen Zutat der Existenzsicherung zu werden. Das gilt vor allem auch ab diesem Montag, wenn bundesweit die Schulen und Kitas geschlossen bleiben. Im Internet kursieren Tipps, mit welchen Basteleien man die Kinder "bespaßen" kann. Wobei die Betreuungsfrage abseits vom Fun auch einen ernsten Hintergrund hat. Viele Menschen haben jetzt ein nicht eben kleines Problem, das sich auch auf die Größe des für die nächsten Wochen womöglich zum alternativlosen Habitat werdenden Lebensraumes bezieht.

Wer der allwissenden Suchmaschine im Internet die Frage stellt, was sich in genau zwei Wochen, also in der maximalen Frist, da sich die Symptome der Infektion zeigen würden, basteln und bauen lässt, wird überrascht von den Findigkeiten. Das Maß der Inkubation, 14 Tage höchstens, reicht angeblich für den Bau einer Konzertgitarre per Onlinekurs. Man kann zu Hause im Garten aber auch einen Carport realisieren oder einen Teppich für die Wohnung weben. Die Tipps, wie man das Zuhausesein drinnen bewältigt in einer Gegenwart, da das Draußen entgegen der boomenden Outdoor-Kultur als toxisch erscheint, gehen im Moment sozusagen viral.

Das Leben im gefeierten öffentlichen Raum wird in den Pausemodus versetzt

Manches davon ist albern, vieles aber ist hilfreich. Die Menschheit ist seit jeher ideenreich darin, das Gefäß von Zeit und Raum zu füllen. Die Kulturgeschichte der Bespaßung, die in Wahrheit etwas Existenzielles meint, reicht von den Erzählungen der Höhlenmalerei bis zu jenen Geschichten, die man sich jetzt online erzählen lassen kann. Bei der Gelegenheit: Es ist schön, dass es Literatur, Film und Musik gibt. Man erinnert sich dankbar daran, dass es auch ein freudvolles Leben im Ohrensessel der Künste geben kann.

Das ist ein Trost, sollte in Deutschland, wie bereits in anderen Ländern Europas geschehen, aus dem Gebot sozialer Distanz ein Verbot der Begegnung werden. Das Leben im gefeierten öffentlichen, mittlerweile aber als Seuchentransmissionsriemen beargwöhnten Raum wird vom Stadion über das Klassenzimmer bis zum Büro in den Pause-Modus versetzt. Was nun nötig ist: Das ist die Kunst des gelassenen Zuhauseseins. Es ist die Stunde des Blaise Pascal. Der Philosoph meinte schon vor Jahrhunderten: "(...) alles Unglück der Menschen kommt davon her, daß sie nicht verstehn sich ruhig in einer Stube zu halten".

Was im 17. Jahrhundert als Kritik am "mannigfaltigen Hin- und Hertreiben der Menschen" formuliert wurde, ist von großer Aktualität. "My home is my castle": Der Kalenderspruch vom trauten Heim, Glück allein, der einem in der Moderne einer kosmopolitisch sich beschreibenden Erlebnis-Kultur konsumorientiert raumgreifender Mobilität bald peinlich wurde als naturwidrige, antinomadische Stubenhockerei, kommt jetzt als Castle 2.0 zurück. Die eigenen vier Wände werden zur letzten Bastion. Die Stube ist nicht mehr der Ort, der zum Aufbruch mahnt in die Welt hinein, sondern sie ist der letzte Hort. Der Hortus conclusus, ein gärtnerisches Bildmotiv der Kunstgeschichte, hat sein Comeback als Rettungskapsel.

Der Rückzug ins Innerliche erinnert an die Zeit des Biedermeier. Damals, im frühen 19. Jahrhundert nach dem Ende der napoleonischen Kriegswirren und angesichts einer ersten Ahnung global beunruhigender Fliehkräfte, entwickelte sich die Tugend des Privatisierens. Hausmusik, Literatur, Kulinarik, Spiel und die genau in dieser Zeit erblühende Wohnkultur formulierten lange vor dem Phänomen des "Cocooning" erste Antworten auf eine zunehmend als desorientiert empfundene Welt.

Zwar war der biedermeierliche Rückzug ins Private eine Folge der krisengeschüttelten Epoche zuvor, zwischen Wiener Kongress und bürgerlicher Revolte, während heute die Besinnung auf die Privatsphäre nicht nur Krisenfolge, sondern auch Vorbeugung und, wenn das Wohnzimmer zur Krankenstätte wird, hoffentlich auch Heilung meint. Insofern unterscheidet sich das je eigene Idyll beträchtlich vom kollektiven Zwang zur Isolation. Die Sorge aber, die dem Kontrollverlust im großen Maßstab und der Masse einen viel kleineren, überschaubaren, beherrschbaren Raum und das Individuum entgegensetzt, bildet dennoch einen gemeinsamen Nenner.

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er ist aber auch in der Lage, mit sich allein zu sein

Wenn heute aus Italien die spontan sich ergebenden Hauskonzerte von Balkon zu Balkon, die auf Youtube herumgereicht werden wie Botschaften der Hoffnung, an die Hausmusik vor 1848 erinnern, ist das jedenfalls kein Zufall. Das feinsinnige Biedermeiersofa war freiwillig das, was die bisweilen maßlosen XXXL-Sofalandschaften nun auch verordnet sein können: Rückzugsorte der Privatheit, Burgen und Kastelle des Individuums. Der Ikea-Spruch lässt sich unter den Zynismen der Corona-Angst so umformulieren: Wohnst du noch oder überlebst du schon?

Dazu passt die Studie "The Indoor Generation". Sie wurde vor zwei Jahren vom dänischen Bauprodukte-Hersteller Velux veröffentlicht. Ergebnis: Es gibt "eine wachsende Zahl von Menschen, die im Vergleich zu früheren Generationen den weitaus größten Teil ihrer Zeit in geschlossenen Räumen verbringen - aktuell 90 Prozent ihres Lebens". Britische Meinungsforscher meinten zudem, dass sich eine große Mehrheit von 77 Prozent ihrer realen "Indoor-Existenz" gar nicht wirklich bewusst sei.

Die Wattekugel, 200 Millimeter im Durchmesser, weiß, Artikelnummer 21-2660202, ist so oder so nicht nur ein Instrument selbstgebastelter Ablenkung. Zur Wohnung geworden inmitten von Ausgangssperren und Seuchenangst wird die Wattekugel zwischen Quarantäne und Exekutivgewalt auch zum Panikraum der Gesellschaft. Wobei es nun in den nächsten Wochen entscheidend darauf ankommt, die Panik diesem Raum schleunigst wieder auszutreiben.

Noch vor dem drohenden Lagerkoller könnte, ja müsste man aus dem erzwungenen Rückzug aus dem öffentlichen Raum eine reanimierte Kunst der privaten Entäußerung machen. Nicht als Burg, als Gefängnis oder als Biohazard-Zone sollte die Wohnung dienen, sondern idealerweise als wiederzuentdeckender Sehnsuchtsort eines Lebensglücks, das nicht allein der Gemeinschaft und der Kommunikation, sondern eben auch dem Ich, der Familie und der Konzentration zu verdanken ist. Gedanklich kann man vom Sofa aus herrlich weit und abenteuerhaft reisen. Die Stille kann auch ein seltenes Wunder sein.

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er ist aber auch in der Lage, mit sich allein zu sein. Für einige Zeit käme es auf diese Tugend an, die in digitalisierten, also ubiquitären, gnadenlos kommunikativen und ausufernd geselligen Räumen möglicherweise in Vergessenheit geraten ist. Denkwürdig: Wie der analoge, aber gleichfalls grenzenlose Krankheitserreger strukturell der digitalen Allraumwerdung entspricht. Vielleicht ist es ja sogar ein Vorteil, dass die Indoorgeneration von Facebook über Lieferando bis Amazon die nötigen Kulturtechniken schon längst verinnerlicht hat.

Nicht jeder Mensch teilt indessen die Sehnsucht nach der Einöde. Was der eine als Wohltat der Einsamkeit empfinden mag, kann der andere als Folter der Isolation durchleiden. Doch wer jetzt für absehbar nicht in die Unendlichkeit ragende Zeiträume die Kunst des Zuhauseseins als Kunst und nicht lediglich als Elend begreift, der wird sich nach der Krise, die noch nicht das Weltende markiert, auch wieder auf den öffentlichen Raum der Begegnungen freuen.

Gemeint ist ein geselliger Raum der Gemeinsamkeit, der in Würde und jenseits seiner zuletzt so radikal ökonomistisch und penetrant lautstark betriebenen Eventisierung schließlich wieder als das Raumwunder erscheinen darf, das Aristoteles einst im Blick hatte. Der Philosoph bemaß seinerzeit das Ideal öffentlicher Versammlungsräume mithilfe der Reichweite der menschlichen Stimme. In digitalen Zeiten ist diese Reichweite scheinbar unendlich geworden. In Krisenzeiten dagegen erinnert man sich wieder an die zivilisatorische Kraft einer Welt, die nicht nur die Masse, sondern auch das Individuum, nicht nur die Fülle, sondern auch die Leere kennt.

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Quelle:
SZ vom 16.03.2020/cag
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