Serie: Welt im Fieber - Indien:Was jemand sieht, hängt davon ab, wer er ist

Outbreak of coronavirus disease (COVID-19) on the outskirts of Kolkata

Ein Zug wird zur Isolierstation für Covid-19-Kranke umfunktioniert und desinfiziert - eine Szene aus Kalkutta.

(Foto: REUTERS)

Können wohlhabende Inder sich vorstellen, wie es ist, die Isolation zu fünft auf neun Quadratmetern zu verbringen? Vielleicht wird die Coronakrise zur Stunde des Mitgefühls.

Gastbeitrag von Venkataraman Ramaswamy

Die zerstückelte Seele hat keine Lust zu singen. (Pandschabische Redensart)

Vor langer Zeit lernte ich die Heisenbergsche Unschärferelation kennen. Einfach ausgedrückt besagt sie, dass allein schon die Art der Beobachtung sich auf das auswirkt, was beobachtet wird. Und so dachte ich im Laufe meiner Tätigkeit in der Graswurzelbewegung und in Angelegenheiten der öffentlichen Politik, dass etwas Ähnliches auch im menschlich-sozialen Bereich anzutreffen wäre: dass das, was jemand sieht, sehr davon abhängt, wer dieser jemand ist. Gerade erleben wir eine weltweite Pandemie. Indien reagiert darauf mit einem dreiwöchigen Lockdown seit dem 25. März. Was heißt das für den Tagesablauf im Leben eines Inders?

Das ist nicht wirklich eine Frage - schließlich zersplittert Indien sich in so viele, enorm unterschiedliche Wirklichkeiten. Für Hunderte Millionen Inder geht es gerade um das nackte Überleben. Ein anderer, im Vergleich dazu weitaus geringerer Teil der Bevölkerung, aber immer noch größer als die Einwohnerzahl der meisten Länder, ist gut gepolstert. Sie werden sich im Lockdown einzurichten wissen. Nur jemand in einer privilegierten, einigermaßen abgesicherten Situation kann sich überhaupt den Luxus leisten, "zu denken", aber über den anderen nachzudenken, das kommt in der Tat selten vor. Vor allem, weil die sogenannte indische Zivilisation - Apartheid, genau gesagt - auf Ausschluss, Trennung und Distanz aufgebaut ist.

Indien ist gerade fest im Griff von Leuten, die ihre Inspiration in "Mein Kampf" finden

Vor diesem Hintergrund hat der von der Pandemie erzwungene Stillstand mir wieder Heisenbergs Unschärfeprinzip in Erinnerung gerufen. Kann jemand über sich selbst hinaussehen, über seine eigene Insel? Im Sinne eines anderen, eines geistigen Prinzips, wie es unser großer Dichter Rabindranath Tagore formuliert hat: "... wo der Geist ohne Furcht und der Kopf hoch erhoben ist; wo Wissen frei ist; wo die Welt nicht in Stücke zerfallen ist (...) wo der klare Vernunftstrom nicht im trostlosen Wüstensand tödlicher Gewohnheit irre gegangen ist." Indern mit dem Luxus, sich das Denken erlauben zu können, bietet die Pandemie eine Gelegenheit, den anderen in den Fokus zu nehmen. Und so möchte ich gerne glauben, dass in diesen dunklen Zeiten etwas erwachen könnte - in einem Indien, das fest im Griff von Leuten ist, die ihre Inspiration in "Mein Kampf" finden; wo alternative Wahrheiten regieren und die Wirklichkeit des täglichen Lebens die Grenze zum Bizarren überschritten hat; wo das Absurde und Surreale sich für Millionen von Indern zum Albtraum auswächst; wo, das darf nicht vergessen werden, Kinder- und Müttersterblichkeit, Tuberkulose, Malaria und Magen-Darm-Krankheiten aufgrund fehlenden Zugangs zu Trinkwasser noch immer für Millionen Menschen an der Tagesordnung sind. Was da inmitten all dieser Düsternis und des Leidens in diesem seltsamen Moment des Lockdowns erwachen könnte? Es könnte der Beginn von Mitgefühl sein: compassion.

1997 gründeten einige von uns eine Graswurzel-Organisation und begannen mit einem Jugend-Mentoring in Priya Manna Basti, einer jahrhundertealten Siedlung von Jute-Arbeitern am anderen Ufer des Hugli, direkt gegenüber von Kalkutta. Im folgenden Jahr richteten wir die Talimi-Haq-Schule für Kinder ein, die meist aus wirtschaftlichen Gründen nicht zur Schule gingen. Ohne irgendwelche Mittel zur Verfügung zu haben, schufen wir eine Schule, die etwas bietet, was man auch ohne wirtschaftliche Potenz haben kann, nämlich Liebe. Amina Khatoon stieß 1998 als Ehrenamtliche dazu, 2004 übernahm sie die Leitung. Mit ihr kam, ebenfalls 1998, Binod Shaw als Sekretär. Amina, eine Muslimin, und Binod, ein Hindu, beide aus ärmlichen Verhältnissen, haben ihr Leben diesem Projekt gewidmet, um den Frauen und Kindern von Priya Manna ein besseres Leben zu ermöglichen, sie selbst sind dabei zu großartigen Persönlichkeiten gereift. Tausende Kinder sind mit der Liebe und Fürsorge von Amina und Binod aufgezogen und ernährt worden. Pina Bausch, die weltberühmte deutsche Choreografin, hat die Tamili-Haq-Schule 2006 besucht, als sie für ihr Stück "Bamboo Blues" auf Recherchereise war. In einem Pressegespräch in Kalkutta sagte sie, was sie in ihrem Stück auszudrücken versuche, sei das Gefühl von Freude, das sie und ihr Team beim Besuch von Talimi Haq erlebten.

Aber nun ist alles zu. Die Klassenzimmer sind leer. Shutdown. Wenn ich hier so sitze, wandern meine Gedanken nach Priya Manna Basti, zu Amina und Binod. Nach der Schließung der Jute-Fabriken, wo die meisten Männer arbeiteten, sind heute fast alle in Priya Manna informelle Arbeiter - Rikschafahrer, Pförtner, Dienstmädchen, Ladeninhaber, Lieferanten. Sie müssen arbeiten, um zu überleben. Sie haben keine Reserven. Und zu Hause, das ist oft nur ein Platz von gerade mal neun Quadratmetern, die sich mindestens fünf Leute teilen. Was bedeutet der Lockdown für sie? Kann jemand wie ich das je wissen? Im Sufismus, der mystischen Strömung des Islam, gelten Wissen und Wahrheit als Seinszustände. Wer muss ich also sein, um etwas über Priya Manna zu wissen? Welche Art von Mitgefühlssprung muss ich machen?

Katherine Funke aus Brasilien, Felwine Sarr aus dem Senegal, Khaled al-Khamissi aus Ägypten, Kristen Roupenian aus den USA, V. Ramaswamy aus Indien, Zukiswa Wanner aus Kenia und Sayara Murata aus Japan. Literaten aus verschiedenen Ländern führen eine globale Chronik.

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V. Ramaswamy, Jahrgang 1960, ist Lehrer, Autor, Sozialplaner und Bürgeraktivist. Er übersetzt bengalische Schriftsteller wie Subimal Misra ins Englische. Ramaswamy lebt in Kalkutta. Aus dem Englischen von Christine Dössel.

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