Berichterstattung über Epidemien:Der Seuchen-Reporter

Mass Evacuations From Quarantined Cruise Ship In Japan

Eine Journalistin vor dem Kreuzfahrtschiff "Diamond Princess", auf dem sich Coronavirus-Infizierte befanden.

(Foto: Getty Images)

Infektionskrankheiten erfassen Gesellschaften schon, bevor die physischen Erreger da sind - denn die Nachrichten sind schneller. Und das nicht erst, seit es das Internet gibt.

Von Lothar Müller

Seit dem 1. Januar 2001 gibt es das Bundesseuchengesetz nicht mehr. An seine Stelle trat das Infektionsschutzgesetz. Im Namenswechsel steckte ein doppeltes Signal. Mit der Seuche wurde ein Wort verabschiedet, das tief in vormoderne Vergangenheiten hinabreicht, und der medizinische Begriff, durch den es ersetzt wurde, war eng an ein Schutzversprechen gekoppelt. Der neue Name des Gesetzes bringt unmissverständlich zum Ausdruck, dass es dem Konzept der Prävention verpflichtet ist. Infektionen, sagt dieser Name, brechen nicht einfach über die Menschen herein, ihre Ausgangspunkte und Übertragungswege lassen sich verfolgen, und wenn hinter der Infektion ein bisher unbekannter Erreger steckt, wie jetzt das Coronavirus, dann wird er nicht lange unbekannt bleiben, sondern sogleich energisch erforscht, und es wird nicht Jahre dauern, bis ein Impfstoff entwickelt ist.

In der Alltagssprache herrscht das Infektionsschutzgesetz nicht unbeschränkt. Nach wie vor gibt es, auch im Bundestag, die Wahl zwischen Pest und Cholera, und wenn derzeit irgendwo in Deutschland ein Infizierter registriert wird, befürchten die Einwohner des Ortes, er könne als "Seuchenherd" verschrien werden. Geschichtsschreibung, Literatur und bildende Kunst haben die großen Seuchen von der Antike über das Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit tief in die Erinnerungsschichten Europas eingelassen, und auch das Infektionsschutzgesetz ist mit diesen Tiefenschichten verknüpft. Sowohl in der "Utopia" von Thomas Morus wie in Francis Bacons "Neu-Atlantis" lässt sich ex negativo die allgegenwärtige Pestangst im Europa der Frühen Neuzeit ablesen. Ausdrücklich sind diese Inselutopien als Orte entworfen, von denen die Pest ausgeschlossen ist oder an denen sie zumindest überwunden werden kann. Besucher von Bacons Insel Bensalem müssen in der Quarantäne verbleiben, bis die Behörden ihnen attestiert haben, dass sie frei von Krankheiten sind.

Das Konzept der Prävention verbindet die Utopien mit der Herausbildung des modernen Staates. Er verspricht nicht nur, durch sein Gewaltmonopol den Bürgerkrieg einzuhegen. Sein Schutzversprechen schließt mehr und mehr auch die Gesundheitsvorsorge ein. In Thomas Hobbes' "Leviathan" schützen die Soldaten den Staatskörper gegen Gefahren von außen, die Seuchenärzte sind für die Gefahrenabwehr im Innern zuständig. Auch davon erzählt seit dem 17. Jahrhundert die Literatur, und es ist eine ihrer schönsten Pointen, dass der Autor, der mit seinem "Robinson Crusoe" die Inselutopie zu einer Modeform des noch jungen Romans gemacht hat, zugleich eine der großen Pesterzählungen der Weltliteratur geschrieben hat.

Der neue Mitspieler in Defoes Pesterzählung: das Pressewesen

Daniel Defoes "A Journal of the Plague Year", 1722 erstmals erschienen, führt seinen Zeitgenossen die Pest im London des Jahres 1665 vor Augen, vor der er selbst als Kind im Alter von fünf Jahren aufs Land in Sicherheit gebracht worden war. Sein Buch ist ein Fanfarenstoß des Präventionsgedankens. Es kennt noch die Deutung der Pest als Geißel Gottes, die sich durch das Auftauchen von Kometen ankündigt, aber es behandelt bei allem Respekt vor und Vertrauen auf Gott die Suche als ein innerweltliches Geschehen, das Maßnahmen des Staates verlangt.

Vor allem aber macht diese grandiose Pesterzählung klar, dass in der Frühen Neuzeit ein neuer Mitspieler auftaucht, der als Gegenüber des Staates auf die von der Pest bedrohten Menschen einwirkt. Dieser neue Mitspieler ist das Pressewesen, das immer dichter werdende Netz von Zeitungen, Broschüren, Traktaten und Anschlagszetteln, in denen sich die moderne Öffentlichkeit herausbildet.

Defoe war nicht nur Romancier, er war zugleich Journalist, das Verwirrspiel von "fact" und "fiction" war sein Markenzeichen. In den Artikeln, die er in den Jahren 1720 und 1721 für diverse Londoner Zeitungen schrieb, gab es aber keine Zweideutigkeit. Sie plädierten eindeutig für die Maßnahmen, mit der die Regierung von Horace Walpole auf den Ausbruch der Pest in Marseille im Juli 1720 reagierte. Der Quarantine Act, den Defoe unterstützte, erlaubte es, Schiffen, auf denen Krankheitserreger vermutet wurden, das Einlaufen in den Londoner Hafen zu verwehren.

Die Nachrichtenzirkulation bestimmt, wann Präventionsmaßnahmen beginnen

Adressat der Zeitungsartikel Defoes war ein Publikum, das auf Verlautbarungen der Regierung nicht angewiesen war, um Nachrichten über die Pest in Marseille zu erhalten. Es lebte nach der Aufhebung der Pressebeschränkungen in den 1690er-Jahren in einer Welt, die der Historiker Dror Wahrman mit dem treffenden Ausdruck "Print 2.0" bezeichnet hat. Die Drucktechnologie hatte gut 150 Jahre nach Gutenberg im Verein mit dem Postwesen die zweite Stufe ihrer Entwicklung gezündet, die Zeitungen, die im frühen 18. Jahrhundert ihre Frequenz erhöhten und Tageszeitungen wurden, waren ihr Brandbeschleuniger.

Sie schufen eine Konstellation, in der wir die Vorgeschichte unserer Gegenwart erkennen können, die Koppelung von Seuche, Nachrichtentechnik und moderner Öffentlichkeit. Sie war mit dem Aufbruch in die Globalisierung, mit der Verstetigung des internationalen Handelsverkehrs eng verbunden. "Foreign news" und "domestic news" durchdrangen einander. Die Nachrichten von Seuchen verbanden beide Sphären. In ihnen verdichtete sich ein Grundelement moderner Gegenwartserfahrung, in der die Zeitgenossenschaft zugleich Raumgenossenschaft ist.

Der wichtigste Effekt dieser Konstellation ist, dass moderne Gesellschaften von Seuchen schon nachhaltig erfasst werden, wenn die physischen Infektionsketten sie noch gar nicht erreicht haben. Die Nachrichtenzirkulation bestimmt - nicht erst im Internetzeitalter, sondern schon in Defoes "Print 2.0"- Welt -, wann Präventionsmaßnahmen beginnen. Im Idealfall bewirkt sie, dass die Quarantäne-Verordnung in London schon in Kraft tritt, bevor das in Marseille ausgelaufene Schiff die Themse erreicht hat.

Daniel Defoe hat im Jahr 1722 gegen die Pestdrohung aus Marseille einen Doppelschlag geführt. In seinen "Due Preparations for the Plague, as well for Soul and Body" stellt er ausdrücklich die seelische - wir würde heute sagen "mentale" - Wappnung des Publikums neben die Ratschläge zur Vermeidung physischer Infektion, etwa, was das Öffnen und Schließen der Fenster betrifft, lässt Familienmitglieder im Schatten der Bedrohung dialogisieren, die Älteren von den Seuchen der Vergangenheit berichten, die sie erlebt haben.

Die Sprache des Romans und Bibel-Zitate leisten der Reportage gute Dienste

Im "Journal of the Plague Year" stellte Defoe seinen Zeitungsartikeln und seinen "Preparations" eine Pesterzählung an die Seite, wie es sie noch nicht gegeben hatte. Sie war als journalistischer Coup aufgemacht, als erstmalige Veröffentlichung bisher unbekannter Beobachtungen und Erinnerungen eines Londoner Bürgers, der die Pest des Jahres 1665 als Augenzeuge, der die Stadt nicht verlassen hatte, erlebt und überlebt hatte.

Nirgends war auf dem Titelblatt der Name Defoes vermerkt, nirgends der Name des Ich-Erzählers. Nur ganz am Ende des Textes stehen seine Initialen "H. F.". Dieser Mann ist Sattler, also mit den Reisenden im Bunde, und will sein Geschäft nicht im Stich lassen. Den Nachnamen könnte er mit seinem Autor teilen, der als Daniel Foe auf die Welt kam, den Vornamen mit Henry Foe, seinem Onkel, der 1665 ein Sattler in mittleren Jahren in Whitechapel war. Wichtiger aber ist, dass er seine Neigung, mit einem Kürzel zu signieren, mit vielen Journalisten teilt. Das entbehrt nicht der Ironie. Denn er ist zwar als Augenzeuge mit dem Faktischen im Bunde, aber eine fiktive Figur von sehr besonderer Art.

Er ist der erfundene Zeitgenosse einer längst vergangenen Gegenwart. In aktueller, von den Pestnachrichten des Jahres 1722 ausgelöster Mission ist er im Dienste seines Autors, des Präventionspropagandisten, im London des Jahres 1665 unterwegs, um eine Leerstelle zu füllen, die damals noch unbesetzt war, die Leerstelle des Lokalreporters. Er selbst macht auf diese Leerstelle zu Beginn seiner Aufzeichnungen aufmerksam. Damals, 1665, seien die Nachrichten und Gerüchte noch mündlich zirkuliert, sie seien noch keine nationale Angelegenheit gewesen wie nun, nach dem Aufschwung der gedruckten Zeitungen.

Im Jahr 1722, in dem Defoe schreibt, ist H. F. schon lange tot. Es wird im Text sogar sein Grab bezeichnet, aber das Aufkommen von "Print 2.0" dürfte er noch erlebt haben. Jedenfalls schreibt er für das Publikum seines Autors, als ein wahrer Pest-Reporter, der zugleich ein Memoir des eigenen Lebens und eine moralische Abhandlung verfasst. Er zitiert häufig die "Mortality-Bills", die allwöchentlich die Todeszahlen in den einzelnen Bezirken Londons veröffentlichen, seine Neugier treibt ihn in Armenbezirke, in die seine Berufsgeschäfte ihn nicht führen würden.

Und er weiß, wenn er die von der Krankheit Erfassten und ihre Familien, die Pestgruben und Notbeerdigungen beschreibt, dass die Sprache des Romans und Anspielungen auf mythische Katastrophen oder die Bibel der Reportage gute Dienste leisten können. Die medizinischen Abhandlungen, die sein Autor gelesen hat, gehen untergründig in seinen Text ein. Die literarischen Ambitionen auch. Die Intensität seiner Schilderung der Symptome, der leidenden Körper steht klassischen Vorbildern wie der Darstellung der athenischen Seuche im "Peloponnesischen Krieg" des Thukydides nicht nach. Er ist das erfundene Gegenüber des Tagebuchschreibers Samuel Pepys, der als hoher Beamter der Marinbehörde durch das Pestjahr geht und wie H. F. überlebt. Pepys aber steht einzig und allein im Dienst seines privaten Lebens; seinen großen Leidenschaften, dem Geld und dem Sex, bleibt er auch im Pestjahr treu. H. F. aber ist im Dienst der modernen Öffentlichkeit unterwegs, er ist unser Mann im London des Jahres 1665.

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