Süddeutsche Zeitung

Design und Corona:Anfassen ist archaischer Wahnsinn

Türklinken sind uns suspekt, seit die Berührung von Gegenständen als gefährlich gilt. Die Zukunft gehört der Kontaktlosigkeit.

Von Gerhard Matzig

Auf Youtube erfährt der präcoronal produzierte Clip "Absolut eklig! Virenalarm an der Tür" eine düstere Aktualität. Dennoch werden in humoristischer Absicht diverse Methoden vorgeführt, wie man eine mutmaßlich virenverseuchte und möglicherweise todbringende Türklinke umgeht - etwa im Handstand. Um den Türgriff "hands-free" zu betätigen, wird der beschuht-beschützte Fuß benutzt. Der in pandemischen Zeiten ja auch schon den Händedruck als anatomisches Grußinstrument ersetzt.

An der Tür können laut Clip aber auch Ellenbogen, Gesäß, Armprothese, Magie oder jene Klopapierkaskaden zum Virenschutzeinsatz kommen, die zuletzt massenweise aus den Regalen geräumt wurden. Möglicherweise auch deshalb, weil sie eben so absolut eklig geworden ist - die nunmehr so übel beleumdete Türklinke. Armes Teil, das wird der Klinke nicht gerecht. Auch wenn die Türklinke, die man auch Türgriff oder Türdrücker nennt, auf Schweizerisch "Türfalle" und auf Österreichisch sogar "Türschnalle" heißt.

Schon architekturgeschichtlich muss man die Schnalle auch dann verteidigen, wenn sie eine Falle sein sollte. Denn die Geschichte der modernen Türklinke verbindet sich mit vielen illustren Namen, mit Richard Riemerschmid etwa, mit Bruno Paul, Henry van de Velde oder Walter Gropius. Sogar der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat als Hobbyarchitekt in den 1920er-Jahren für das Haus seiner Schwester Margarethe Stonborough-Wittgenstein eine Türklinke entworfen und sich dafür ein ganzes Jahr Zeit genommen.

Wittgenstein hat das Wesen der Klinke gründlich durchdacht. Übrigens sah auch Rudolf Steiner in der Türklinke, die zwischen innen und außen vermittelt, die zwischen offen und geschlossen den Unterschied macht, die der Hand schmeicheln kann und doch reine Mechanik darstellt, die simpel und zugleich raffiniert ist, ein höheres Wesen am Werk.

Und jetzt also dieser tiefe Fall. Wobei die Klinke nicht allein ist in ihrem aktuellen Corona-Elend. Man sieht derzeit überall Menschen vor Türgriffen, am Ticketschalter der Bahn oder an der Supermarkttheke in einer Art grimmiger Angststarre. Man sieht Leute, die sich verrenken, um nicht Hand anlegen zu müssen - und solche, die sich nach einer kurzen, zögerlich verunsicherten Berührung mit einem seuchenschleuderhaften Gegenstand die Finger betrachten, als stünden sie in Flammen. Das Berühren der Oberflächen ist zur Mutprobe geworden. Menschen gehen sich mittlerweile aus dem Weg, sie misstrauen aber auch dem Ding an sich.

Nicht ganz unschuldig daran ist eine kürzlich vorgestellte US-Studie, wonach sich Viren bis zu 72 Stunden auf verschiedenen Oberflächen halten können. Allerdings bezweifelt der Virologe Christian Drosten von der Charité in Berlin die dargestellte Gefährlichkeit der Kontaktinfektion (Schmierübertragung). Und auch das Center of Disease Control and Prevention der USA hält die Berührung von Oberflächen nicht für den maßgeblichen Übertragungsweg. Das Robert-Koch-Institut bezeichnet die "Tröpfcheninfektion" von Mensch zu Mensch als Hauptrisiko. Türklinken und Geldscheine sind eher Mitläufer. Aber verdächtig genug, um jetzt dem schon Kontaktlos-Design endgültig zum Durchbruch zu verhelfen.

Wasserspender, die sich per Sensor einschalten, sind das Design der Stunde

Die "berührungslose Exzellenz" beispielsweise ist keine Persönlichkeit "in hervorragender amtlicher Stellung" (Wikipedia über die Exzellenz), die man schon wegen ihrer hervorragenden amtlichen Stellung lieber unberührt lassen sollte. Stattdessen ist es ein mit "Sensorautomatik" ausgestatteter Waschtisch der Marke Axor. Die wiederum zu der schon 1901 im Schwarzwald gegründeten Firma Hansgrohe gehört. Hansgrohe hat tausenderlei Patente angemeldet und einige Sanitärrevolutionen angezettelt - die Duschstange gehört darunter nicht zu den unwichtigsten Futurismen. Aber es ist gerade die Elektronik-Armatur ("Exzellenz in Design und Hygiene"), die sich so passgenau in eine Zeit fügt, da das Anfassen staatszersetzend ist.

Wasserspender, die sich per Sensorsteuerung einschalten, wenn man die Hände darunter hält (und sich ausschalten, wenn man sich entfernt), ohne dass man an Knöpfen, Hebeln, Drehgriffen oder sonstigen Gerätschaften herumfummeln müsste: Das ist das No-touch-Design der Stunde. Schade, dass der Hersteller für seine edlen Armaturen laut Axor-Homepage vornehmlich "Lounges", "Luxushotels" oder die "gehobene Gastronomie" im Blick hat. Die Berührungslosigkeit hätte man auch einem Wildtiermarkt in Wuhan gegönnt.

Das No-touch-Bedienungsdesign, also zum Beispiel Gestik- oder Sprachsteuerung, ist nicht erst seit der Corona-Pandemie im Vormarsch. Es ist schon lange ein Traum der Ingenieure und Gestalter. In den ersten Folgen von "Raumschiff Enterprise" aus den Sechzigerjahren gibt es genau drei Klangmechanismen, besser: Soundsensationen, die in allem gebotenen Utopismus klarstellen, dass man sich nun im 23. Jahrhundert befindet. Erstens der Warp-Antrieb, zweitens das Beamen und drittens: Wenn Lieutenant Uhura die Brücke betritt, während sich hinter ihr die Tür wie von Zauberhand mit diesem großartigen Sssssssst schließt - spätestens dann tritt außer Uhura auch die Zukunft durch die Tür.

Automatiktüren gibt es längst. Sie werden aber nicht mal in Krankenhäusern regelmäßig eingebaut. Zu schweigen von Bürogebäuden. Die "Raumschiff Enterprise"-Technologie hat ihren Preis. Günstiger ist ein Vorschlag einer belgischen 3-D-Druckerei, die eine Türgriffbefestigung zum kontaktlosen Öffnen entworfen hat und nun als Antwort auf die Krise zum Download anbietet. Das kombinierte Klinken-Hand-Mobbing aus dem 3-D-Drucker führt dazu, dass man die Türen mit dem Ellbogen aufstemmt. Ästhetisch ist das fragwürdig, virologisch ist man aber auf der sicheren Seite. "Selten", heißt es beim Bad- und Küchenhersteller Dornbracht, der derzeit ebenfalls das "kontaktlose Händewaschen mit Touchfree" bewirbt, "war es uns so bewusst wie heute: Händewaschen ist essenziell. Gerade an öffentlichen oder halböffentlichen Orten, wo sich mehrere Menschen einen Waschplatz teilen, ist aber nicht nur die individuelle Sorgfalt beim Händewaschen von Bedeutung. Auch die Oberflächen und Armaturen spielen eine wichtige Rolle für eine gute Hygiene. Umso besser, wenn diese beim Händewaschen gar nicht berührt werden müssen."

Die Sphäre der Unberührbarkeit ist ein mächtiger Zukunftsaspekt der Produktwelt. Schon bald, spätestens aber im Jahr 2054, werden wir wie Tom Cruise in rasendem Tempo Digitales rein mit Gestensteuerung für das Head-up-Display abrufen. In modernen Autos gibt es die Gestensteuerung schon in Ansätzen. Und irgendwann wird uns sowieso die KI ganz körperlos erklären, was wir denken. Bis dahin sind unsere Extremitäten so verkümmert, dass die Kulturtechnik des Anfassens als archaischer Wahnsinn der Frühzeit gilt. Aber bis es so weit ist, hey Alexa, spiel doch mal den Song "It's the end of the world as we know it and I feel fine".

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SZ vom 08.04.2020/khil
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