Süddeutsche Zeitung

Demokratische Architektur:Einschüchternd offen

Die Kuppel stand einst für den absoluten Herrschaftsanspruch. Auf dem Reichstagsgebäude vermittelt sie eine Offenheit, die sogar zornige Demonstranten aufhält.

Von Gerhard Matzig

Das Reichstagsgebäude in Berlin, nur ehedem korrekt als "der Reichstag" bekannt, entstand Ende des 19. Jahrhunderts. Nach einem Entwurf des Architekten Paul Wallot. Der Architekt fiel allerdings bald in Ungnade. Nicht, wie man denken könnte, weil Wallot Elemente der italienischen Hochrenaissance, des deutschen Neobarock und der seinerzeit hochmodernen Technologie einer Stahl- und Glaskonstruktion für die Kuppel zu einem stilistisch etwas eigenartig wirkenden Schmuckbackstein samt Beule zusammengerührt hatte; sondern weil dem Bauherrn Wilhelm II., seit 1888 in einem sterbenden Amt als letzter deutscher Kaiser befindlich und auch sonst von trauriger Gestalt, vor allem die Kuppel missfiel.

Darin sah der Oberpreuße ein übersteigertes Symbol für die ärgerlichen Machtansprüche des ungeliebten Parlaments. Das Gebäude - Sitz des Reichstags des Deutschen Kaiserreichs und später auch der Weimarer Republik, seit 1999 Stätte des Deutschen Bundestags - schmähte er als "Gipfel der Geschmacklosigkeit" und "völlig verunglückte Schöpfung". Bald war auch in der Öffentlichkeit die Rede vom "Reichsaffenhaus".

Kuppelbauten fordern die gesellschaftliche Symbolwerdung heraus

Die Reichstagskuppel konkurrierte allzu signifikant mit der Kuppel des Berliner Schlosses. Das eine ist aber ein architektonisches Symbol für die Herrschaft des Volkes, das andere ein bauliches Emblem für die Macht der monarchistischen Elite. Ein und dieselbe Architekturform: zwei unterschiedliche Raum- und Politausdeutungen. Vom Pantheon in Rom bis zu den geodätischen Buckminster-Fuller-Fantasien zur Überwölbung von ganz Manhattan in der Nachkriegsmoderne: Solche Bauten fordern in besonderer Weise zur gesellschaftlichen Symbolwerdung heraus.

Zumal, wenn so eine Kuppel das "Herz unserer Demokratie" (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier) beziehungsweise das "symbolische Zentrum unserer freiheitlichen Demokratie" (Innenminister Horst Seehofer) weithin sichtbar bekrönt. Am Himmel über Berlin. Im Zentrum.

Die Politik reagiert zu Recht mit Abscheu auf die Szenen von Samstagabend, die sich - befeuert von grölenden Corona-Demonstranten - auf der Zugangstreppe des Bundestags ereigneten. Zuvor hatten die Trillerpfeifen, von denen einige die Maskenpflicht, andere auch Deutschland abschaffen wollen, Absperrungen überrannt. Nun zogen sie zum Eingang. Das zeigt ein viral gewordenes Video. Zu hören ist, und das Affenhaus ist nichts dagegen, ein Getöse wie sonst nur im Fußballrund der Ultras. Zu hören ist "Wahnsinn! Der Reichstag!!" Es ist ein Schreien, das fast schon fanatisch über sich selbst staunt.

Bis es an einer Glastür und im Angesicht von wenigen, dafür mutigen Polizisten endet. Der "Sturm auf den Reichstag", der möglicherweise auch nur eine Windbö ist, verharrt, als hätte er mit einem Mal vergessen, was jetzt zu tun sei. Wenige Polizisten und eine große Wand aus Glas halten die Revolution auf. Man fühlt sich an ein angebliches Lenin-Zitat erinnert: "Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!"

Norman Foster sah die "antidemokratische" Kuppel gar nicht vor

Die Leute, die den Reichstag wenn nicht stürmen, so doch heimsuchen wollten, um sich von einer Glastür ernüchtern zu lassen, sind solche Revolutionäre. Was wollten sie im Reichstag? Selfies machen? Einmal den Plenarsaal erleben? Das geht einfacher: Der Deutsche Bundestag, mittlerweile mit viel Glas und Transparenz ausgestattet, gehört zu den (bislang) zugänglichsten Politbauten der Welt. Und auch wenn man die rechtsradikalen Energien, die auf dem Trittbrett der Virus-Debatte reisen, nicht verharmlosen darf: Man tut sich keinen Gefallen, wenn man den "Sturm auf die Bastille" von 1789 zur Blaupause für den "Sturm auf den Reichstag" macht.

Dennoch verwundert es nicht, dass ein Gebäude in seiner Funktion als politische Architektur zum Schauplatz wird. Schon das berühmte Foto (nachgestellt) vom Mai 1945, es zeigt das Hissen der sowjetischen Flagge auf der Reichstagsruine, konnte nur so ikonisch werden, weil es von der nicht nur realen, sondern eben auch symbolischen Überwältigung erzählt. Das Narrativ lebt von der Verortung. Die Bastille in Frankreich, erst Tor, dann Gefängnis, ist eine Festungsarchitektur wie das Weiße Haus in den USA. Das eine wurde in der Realität der Revolutionsgeschichte überrannt, das andere ("White House Down") in der Hollywood-Fiktion. Die Gemeinsamkeit besteht im architektonischen Symbol politischer Macht.

Übrigens hatte Norman Foster, der den Reichstag in seiner heutigen Form mit öffentlich begehbarer Glaskuppel realisierte, ursprünglich nicht das "antidemokratische" Element der Kuppel im Sinn, sondern ein riesiges Flachdach, das zum Spottgebilde wurde als "Deutschlands größte Tankstelle". Es war die Politik, die darauf bestand, aus dem Ex-Kuppelbau Wallots einen zeitgenössischen Kuppelbau der Demokratie zu machen. Seinerzeit warnten die Leitartikel temperamentvoll naiv vor dem Kuppel-Wahn.

Nicht hinter jeder dorischen Säule steckt ein blutbefleckter Diktator

Die Kuppel stehe, hieß es, für den Machtanspruch jenseits des Volkes. Die Rede war von "Neuteutonia" (Berlin) und einer heimlichen Sehnsucht nach den Emblemen tradierter Machtgefüge. Man befürchtete, dass ein kuppelbekröntes Haus sich letztlich gegen das Volk richten würde. Diese Befürchtung war Unfug. Es ist aber bemerkenswert, dass nun umgekehrt jene, die sich für das Volk halten und meinen, im Namen der Demokratie unterwegs zu sein, ihre Destruktion gegen ein Haus gelebter Demokratie richten. Corona-Leugnung und Kaiser-Ansichten im Namen einer zu verteidigenden Volksherrschaft: Hand in Hand. Die Melange wird immer bizarrer.

Der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger meinte einmal, dass nicht hinter jeder dorischen Säule "ein blutbefleckter Diktator" stehe. Im Umkehrschluss müsste sonst jedwede Glasarchitektur, die zu einem Konzern gehöre, Transparenz verbürgen. Auch das stimmt nicht. "Wahnsinn! Der Reichstag!!": Das hat mit Kintopp mehr als mit der Frage nach der politischen Architektur deutscher Parlamente und ihrer Symbolik zu tun. Das ist auch gut so, denn in einem föderalen System, das auch die durchgeknalltesten Formen der Meinungsfreiheit verträgt, wird die Demokratie nicht an zentralen Plätzen und in staatstragenden Herz-Bauten verteidigt, sondern im Alltag. Die Symbolkraft politischer Architektur ist in Wahrheit so überschaubar wie das sinnlose Wüten dagegen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5015917
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 01.09.2020/khil
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.