Süddeutsche Zeitung

Corona und Kultur: In Kiel wird wieder gespielt:Gorillas und Spitzentanz

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Das Theater Kiel beteiligt sich an einem Modellprojekt, das zeigt, wie auch in der Pandemie die Schauspielhäuser öffnen können.

Von Till Briegleb

In Deutschlands nördlichster Landeshauptstadt leben die Menschen schon länger die halbe Normalität, die auch andernorts gerade zurückkehrt. Die Kieler saßen schon Mitte April bei 11 Grad Nieselregen draußen und tranken Aperol Sprizz. Solarien und Geschäfte hatten offen, und im Hiroshima-Park beim Rathaus clusterten große Gruppen von Menschen in gelb-grünen Liegestühlen ohne Maske und Abstand und taten zu deutschen Schlagern aus dem Kassettenrekorder all das, was woanders streng verboten ist: feiern, trinken, mitsingen, umarmen. Und nebenan in der Oper wurde gespielt.

Als einziges Musiktheater in Deutschland, wie ein Dramaturg vor der Vorstellung stolz verkündete, sei das Kieler Haus geöffnet, nachdem die Modellprojekte in Saarland und Tübingen wegen der "Notbremse" wieder schließen mussten. In Kiel aber läuft seit 20. April ein Vollspielplan mit fünf Sparten, um zu zeigen, "dass ein regulärer Spielbetrieb unter Corona-Bedingungen möglich ist", wie es in der offiziellen Ankündigung des Experiments hieß. Nun hatte Kiel nie eine Inzidenz von über 100, aber doch knapp drunter. Und unter diesen Bedingungen blieben bisher überall in Deutschland die Bühnen zu. Die Landesregierung aber lässt in 14 Institutionen Schleswig-Holsteins vom Lachmöwen-Theater Laboe über die Volkshochschule Rendsburg zu den großen Landestheatern in Lübeck und Kiel prüfen, ob diese Zumutung wirklich nötig ist, wenn es ein sicheres Hygienekonzept gibt.

Ein Remake von 1997: War die künstlerische Leitung jahrzehntelang in Quarantäne?

In Kiel sah Kultur in der Pandemie dann so aus: Vorher würgen in der Covid-Teststation in einem Seiteneingang der Oper, dann mit negativem Ergebnis und zwei unterschriebenen Erklärungen, dass man seine Daten für die wissenschaftliche Auswertung zur Verfügung stellt und sich nicht krank fühlt, sowie Personalausweis und Ticket dem Einbahnstraßensystem zur Eingangskontrolle folgen. Das geht alles zack, zack, jedenfalls bei dem kargen Publikumsandrang, den eine Verteilung im Saal mit vier freien Plätzen und einer leeren Reihe zwischen den Zuschauern erlaubt. Mit Maske, aber ohne Pausengetränk, ist danach Kulturgenuss möglich.

Wobei das mit dem Genuss in Kiel so eine Sache ist. Man merkt den Vortragenden zwar die Freude an, wieder spielen zu dürfen. Aber diese Erleichterung muss sich leider in ästhetischen Formen äußern, deren Biederkeit weniger Fragen zu Corona als Fragen zur künstlerischen Gesamtausrichtung des Fünf-Sparten-Komplexes stellt. Bei "My Fair Lady" springen Männer wie Gorillas in Mackie-Messer-Klamotten über die Bühne und schlagen Frauen auf den Po. Im Ballett-Abend "Stepping Forward #Junge Choreograf*innen" kommen auf zwei eigensinnige Tanztheater-Darbietungen sieben Nummern voller Spitzentanz- und Gefühls-Kitsch.

Und Daniel Karaseks Remake seiner Erfolgsinszenierung "Shakespeares sämtliche Werke (leicht gekürzt)", mit der er 1997 am Münchner Residenztheater einen Kassenknüller hingelegt hatte, wirkt als Neuinszenierung im Schauspielhaus wie ein Theater, das alle künstlerischen Entwicklungen seither verschlafen hat. Da Daniel Karasek bereits 2003 erst Schauspielchef und dann Generalintendant in Kiel wurde, stellt sich nach Ansicht dieser Ansammlung scherenschnitthafter Volksunterhaltung die Frage, ob die künstlerische Leitung vielleicht die vergangenen 20 Jahre Kulturfortschritt in freiwilliger Quarantäne in Kiel verbracht hat.

Keine Krankmeldung im Publikum und die CO2-Melder schlagen nicht Alarm

Für das Modellprojekt zu Corona allerdings ist es egal, was man sehen muss. Hier zählt, ob es eine virale Verbreitung durch den Betrieb gibt. Die Endauswertung des Versuchs steht noch aus, zumal das Projekt wohl in den Juni verlängert wird. Aber die Pressesprecherin der Kieler Theater, Ulrike Eberle, kann nach einem Monat Probelauf schon einmal ein positives Ergebnis vermelden.

Keine einzige Krankmeldung beim Publikum, das sich verpflichtet, bis drei Wochen nach Vorstellungsbesuch eine Infektion anzuzeigen. Im dauergetesteten Ensemble nur zwei Schauspieler umbesetzt wegen Positiv, eine Bühnenbildnerin und eine Regieassistentin in Quarantäne, eine Gastsängerin zu Hause geblieben. Und die CO2-Melder in den Sälen, die den Luftnotstand anzeigen, wann abgebrochen und gelüftet werden muss, kein einziges Mal angeschlagen. Nur das Publikum brauchte etwas Zeit, sich warmzulaufen. Aber inzwischen sind die meisten Vorstellungen wieder ausverkauft.

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