Chöre in der Coronazeit:Sehnsucht nach dem Einsingen

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Chöre im ganzen Land wehren sich gegen das Probenverbot. Das Ansteckungsrisiko sei hoch, heißt es - aber die Menschen wollen singen.

Von Kathleen Hildebrand

Mehr als vier Millionen Menschen in Deutschland singen regelmäßig im Chor. Sie alle müssen sich seit März mit einsamem Üben oder mit stockenden Videokonferenz-Proben darüber hinwegtrösten, dass ihr sonst eher harmloses Hobby gerade als potenziell tödlich gilt. In den Niederlanden, den USA und in Berlin haben sich ganze Chöre höchstwahrscheinlich bei Proben mit dem Virus infiziert. Neben der üblichen Tröpfcheninfektion stehen vor allem die noch feineren Aerosole im Verdacht, für die hohen Infektionsraten verantwortlich zu sein, weil sie sich länger in der Luft halten.

Die Chöre waren lange still, auch in ihrem Unmut über den Gesangsentzug. Aber damit ist es nun vorbei. Die Chorverbände erstellen fleißig eigene Hygienekonzepte, auf deren Grundlage sie hoffen, bald wieder proben zu dürfen. Altbundespräsident Christian Wulff, mittlerweile Präsident des Deutschen Chorverbands, sagte in einem Interview, er hoffe "inständig, dass das Singen im Chor bald wieder bundesweit möglich sein" werde. In Rheinland-Pfalz gab es eine Petition der Chorsänger gegen das Probenverbot bis Malu Dreyer einlenkte: Vom 10. Juni an dürfen die Chöre dort unter Einhaltung von Hygienevorschriften wieder singen. Auch in Nordrhein-Westfalen ist den Chören das Proben seit Ende Mai wieder erlaubt. Die Hygienevorschriften allerdings lauten so: seitlich drei Meter Abstand zwischen den Chorsängern, nach vorne vier. Jede Person soll zehn Quadratmeter Platz zum Singen haben. Die meisten werden da nur leise chorisch lachen können: So viel Platz hat kaum ein Probenraum. Die Erlaubnis kommt somit einem Verbot beinahe gleich. Es sei denn natürlich, der Chor geht nach draußen. Im Freien gelten zwar dieselben Abstandsregeln, aber es ist realistischer, dass man sie auch einhalten kann.

Kirchen
:Singen trotz Gefahr

Beim gemeinsamen Singen gilt die Gefahr, sich mit dem Coronavirus anzustecken, als besonders groß. Ein Drittel aller Kirchengemeinschaften in Deutschland erlaubt es dennoch - "in reduzierter Form".

Von Markus Grill und Klaus Ott

In Bayern sind Chorproben explizit von Lockerungen der Regierung ausgeschlossen

Genau das hat Valentin Schwarz im Sommer mit dem Opernchor Stuttgart vor. Eigentlich hätte der Regisseur in diesem Jahr Richard Wagners "Ring des Nibelungen" in Bayreuth inszeniert. Aber die Festspiele fallen aus. Stattdessen bringt er nun zusammen mit Chorleiter Manuel Pujol Mitte Juli unter dem Titel "Demo(kratie)" eine Collage aus Wagner-Chören auf den Schlossplatz: "Der Chor kommt dorthin, wo die Leute in Stuttgart ohnehin schon sind. Wir laden sie ein, den Chor auf einer Reise zur Oper zu begleiten", sagt Schwarz. Geprobt wird momentan im Saal der Staatsoper. Um die Abstände einzuhalten, stehen die 80 Chorsänger nicht nur auf der Bühne, sondern auch in den Publikumsreihen.

Anders sieht es in Bayern aus. Seit dieser Woche erlaubt die Staatsregierung den Probenbetrieb für Laienmusikgruppen wieder - die Chöre aber schließt sie explizit davon aus. Weder in großen Proberäumen, noch in der Natur darf hier gemeinsam gesungen werden. Was folgte, war ein "Aufschrei der Chöre", wie die bayerischen Chorverbände in einer Pressemitteilung formulierten. Die Leute wollen singen. Und sie sagen das immer lauter.

Das Problem: Chorgesang hat unmittelbar mit dem Atmen zu tun, die Ansteckungsgefahr ist groß

Thomas Goppel, ehemaliger bayerischer Kunstminister und heute Präsident des Bayerischen Musikrats, sagt, dass die Sängerinnen und Sänger "das Vorgehen der Staatsregierung als unzumutbare Gängelung" empfänden. Verbitterung mache sich bei den Chorverantwortlichen breit. Sie würden von der Politik ignoriert, die Regelungen seien "ohne fachliche Untermauerung".

Und was sagt sie denn nun aktuell, die Wissenschaft? Eckart Altenmüller, Leiter des Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover warnte kürzlich vor einer zu schnellen Wiederaufnahme der Proben: Weil Chorgesang unmittelbar mit dem Atmen zu tun habe, bestehe ein hohes Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, das Virus könne sich tief in der Lunge einnisten. "Wenn wir vermeiden wollen, dass sich diese Pandemie wieder ausbreitet, dann sollten wir im Moment keinen Chorgesang erlauben." Studien haben zwar ergeben, dass die Gefahr der Tröpfcheninfektion beim Singen nicht wesentlich größer ist als beim Sprechen. Wie infektiös aber die Aerosole tatsächlich sind, ist nicht erforscht, auch wenn momentan einige Studien dazu in Arbeit sind.

In ihrer aktuellen Risikoabschätzung für Musiker, die sie regelmäßig aktualisiert publizieren, raten Bernhard Richter und Claudia Spahn, Leiter des Freiburger Instituts für Musikermedizin, "zu einer kleinschrittigen, stufenweisen Wiedereingliederung". Gegen die verschiedenen Infektionswege empfehlen sie Maßnahmen, mit denen sich das Risiko einer Ansteckung deutlich reduzieren lasse: von der genauen Kontrolle der Personen, die an einer Probe teilnehmen, nach Alter, Erkrankungsrisiko und bestehenden Symptomen, über das Tragen von Masken, das Einhalten von Zwei-Meter-Abständen bis zur Zuglüftung des Raums alle 15 Minuten, um die Ansammlung von Aerosolen zu verhindern. "Wir wollen Musiker ermuntern, kreativ die erforderlichen Maßnahmen umzusetzen", sagt Claudia Spahn. Wenn der eigene Probenraum zu klein sei, solle ein Chor versuchen, stattdessen in einer Kirche oder in der Stadthalle zu proben. Die Musikhochschule Freiburg, zu der ihr Institut neben dem Uniklinikum gehört, baue gerade an einer Freiluftbühne, damit die Studenten proben und auftreten können.

Beim Washingtoner Chor war der Altersdurchschnitt besonders hoch

Der Fall eines infizierten Chores im US-Bundesstaat Washington, sagt Bernhard Richter, sei mittlerweile erforscht: Die Stühle hätten dort maximal 25 Zentimeter von einander entfernt gestanden. Außerdem habe der Chor einen Altersmedian von 69 Jahren gehabt, einige Mitglieder, darunter die beiden verstorbenen, hatten mehrere Vorerkrankungen, ein Mitglied habe seit Tagen Symptome gehabt und es habe eine gemeinsame Snackpause gegeben. "Wenn man sich die Studie dazu durchliest, muss man den Grund für die hohe Ansteckungsrate nicht mehr ausschließlich bei den gleichermaßen ernst zu nehmenden Aerosolen suchen."

Auch wenn Chorsänger sich demnächst wieder zum Singen treffen können, zumindest draußen im Park: Bis sie sich wieder Notenblätter und Hustenbonbons teilen, wird es sicher noch eine ganze Weile dauern.

© SZ vom 10.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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