Es ist viel Wasser den Nil hinabgeflossen seit dem Erscheinen von "Die Läuterung des Goldes in einer zusammenfassenden Darstellung von Paris", einem Buch, das der ägyptische Modernisierer Rifaa al-Tahtawi 1834 über seinen Studienaufenthalt an der Seine geschrieben hat. Ausgehend von einer mehrwöchigen Internierung schrieb Tahtawi im Kapitel "Quarantäne" über einen Glaubensstreit zwischen muslimischen Imamen, ob die Quarantäne nach islamischem Recht zulässig oder abzulehnen sei. Dabei vertrat einer der Scheichs die Auffassung, die Maßnahme sei nichts anderes als das Bemühen, dem von Gott verhängten Urteil zu entfliehen - und deshalb sei er dagegen.
Heute jedoch sind die Moscheen in Ägypten für die Betenden geschlossen, auch die koptische Kirche hat verkündet, dass Gottesdienste und Messen ausgesetzt sind. Zudem hat die Regierung am 25. März eine allgemeine Ausgangssperre verhängt, die von sieben Uhr abends bis sechs Uhr morgens gilt, also quasi eine "Halbquarantäne". Und niemand spricht davon, ob diese Maßnahmen nach religiösem Gesetz zulässig sind oder nicht.
Ägyptische Intellektuelle fragen sich bereits, ob die Seuche der Startschuss für einen Rückzug der Glaubensvertreter aus der weltlichen Sphäre sein könnte und sie nun der Wissenschaft das Primat überlassen werden - nachdem die Religiösen das Leben seit den Siebzigerjahren beherrscht haben. Auffällig ist, dass sich die Ägypter nicht dem Aberglauben hingegeben haben oder zu Scheichs und Priestern gelaufen sind, die sie vor der Gefahr bewahren sollen. Stattdessen erfreuen sich wissenschaftliche Ansichten größter Verbreitung.
Allerdings hat in Alexandria eine salafistische Prozession Gott gebeten, er möge die Seuche aufheben. Ebenso lehnte es der Vorsteher der viel besuchten Imam-Hussain-Moschee in der Altstadt von Kairo ab, sein Gotteshaus zu schließen. Es kursieren viele Videos, die gegen das Virus Knoblauch und Zitronen empfehlen, eine abstruse Empfehlung von Gewürzhändlern und anderen, die die Scharlatane der ägyptischen Medien vor die Kamera holen. Zudem haben die Kopten bereits ihre Sorge darüber zum Ausdruck gebracht, dass nun Eucharistiefeiern eingestellt sind, bei denen ja der Priester den Wein aus einem Kelch der gesamten Gemeinde zu trinken gibt und das Brot aus unmittelbarer Nähe den Gläubigen in den Mund legt. Viele Kopten glauben, dass ein Gläubiger, dem vierzig Tage lang das Abendmahl vorenthalten wird, von einem bösen Geist befallen werden kann.
Die Ägypter bringen die Seuche mit Ausländern in Verbindung. Das ist kein gutes Zeichen
Bedingt durch die "Halbquarantäne" wiederum führen wir ein sonderbares Doppelleben. Morgens sehen wir in den Städten das übliche Gedränge, Straßen und Verkehrsmittel füllen sich mit Ägyptern auf dem Weg zur Arbeit, ertönt das gewohnte Getöse. Am Abend aber verkriechen sich die Menschen in ihrer Höhle. Die Wasser des Nils kommen zur Ruhe, und auf den Balkonen atmen wir erfreut etwas weniger verschmutzte Luft ein. Die Städte werden zu Ruhezonen für streunende Hunde und Katzen, die sich vielleicht fragen, wohin die Menschen verschwunden sind, während sich die Menschen fragen, was das für ein nächtliches Virus ist, das erst nach sieben Uhr abends durch die Atemwege wandert, mit dem Morgen aber sein Treiben einstellt.
Manche verteidigen die Regierung mit dem Hinweis darauf, es sei schlicht unmöglich, dass die Ägypter tagsüber zu Hause blieben, denn dann würden sie verhungern. Nach den letzten Erhebungen der Ägyptischen Zentralagentur für öffentliche Mobilisierung und Statistik lebten 2017/18 etwa 33 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Ein Drittel der ägyptischen Bevölkerung hat also pro Kopf weniger als vierundvierzig Euro im Monat zum Leben. Ein weiteres Drittel der Ägypter lebt an der Grenze zur Armut. Diese Menschen verfügen allesamt kaum über Ersparnisse, die ihnen erlauben, länger als eine Woche zu Hause zu bleiben.
Die Menschen teilen sich in zwei Gruppen. Der Optimismus der einen speist sich aus der Annahme, dass erstens die Tuberkuloseimpfung, die alle Ägypter haben, gegen die Ausbreitung des Virus hilft. Und zweitens, so die Hoffnung, würden die Sommertemperaturen das Volk schützen. (Ich schreibe dies aus meinem Arbeitszimmer im Zentrum von Kairo bei 34 Grad.) Die pessimistische Gruppe wiederum verweist darauf, dass die Ägypter mehr als 100 Millionen Menschen zählen, die mehrheitlich eng gedrängt im dicht bevölkerten Niltal leben, was schlimmste Auswirkungen auf die Ausbreitung des Virus haben könnte. Außerdem, so ihre Sorge, ist die medizinische Infrastruktur des Landes heruntergewirtschaftet, veraltet und in einem miserablen Zustand.
Was mir Sorge macht, ist die Angst vor Ausländern. Ägypten hat, wie viele andere Staaten, seine Grenzen geschlossen, um sich vor der Gefahr von außen zu schützen. Und so ist der Ausländer zum Quell der Gefahr geworden. Die Ägypter sprechen über die Ansteckungen und bringen diese mit einer Reise in Verbindung, die der Erkrankte zuletzt nach Europa oder China unternommen hat, oder aber mit einem Ausländer, den er getroffen hat. Wird dies am Ende zu einem gefährlichen Nationalismus führen?
Bleibt noch die hier ganz besonders drängende Frage, ob die Welt aus dieser Lage als eine vernünftigere, rationalere hervorgehen wird. Das hatten viele auch nach dem Zweiten Weltkrieg gehofft, aber sie wurden enttäuscht. Können wir uns eine Welt wirklich vorstellen, die weniger Geld für Waffen und mehr für Menschen, für Gesundheitseinrichtungen, Bildung und Kultur ausgibt? Oder hieße das, bei der Sympathie für den Menschen übers Ziel hinauszuschießen?
Khaled al-Khamissi, geboren 1962 in Kairo, ist ein ägyptischer Schriftsteller und Publizist. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch "Arche Noah" (Lenos Verlag). Aus dem Arabischen von Markus Lemke.