Cormac McCarthy wird 80:Der apokalyptische Reiter

Pulitzerpreis für Autor Cormac McCarthy

Autor Cormac McCarthy wird 80.

(Foto: dpa)

Wenn Cormac McCarthy von Amerika erzählt, erschafft er im Kopf der Leser die gewaltigen Landschaften des Westens. Doch seine grandiosen Epen spielen immer in der Abendröte des Untergangs. Eine Rundreise durch sein Werk zum 80.

Von Christopher Schmidt

Vor ein paar Jahren bot Cormac McCarthy seine Schreibmaschine zur Versteigerung an. Es handelte sich um eine Olivetti Lettera 32, die er 1963 gebraucht bei einem Pfandleiher in Tennessee erstanden hatte. Mit der Auktion wollte McCarthy Geld auftreiben für das interdisziplinäre Santa Fe Institute, dem er eng verbunden ist. Zugleich stellt es eines der wenigen Fenster zur Welt dar für diesen radikalen Einzelgänger der amerikanischen Literatur, der zurückgezogen auf einer Ranch in New Mexico lebt.

Wäre die Schreibmaschine eines der Pferde, die in seinen Romanen eine fast ebenso wichtige Rolle spielen wie die Menschen, müsste man sagen, McCarthy habe sie gründlich zuschanden geritten, eine Schindmähre, reif für den Abdecker. Fünf Jahrzehnte lang hatte sie ihre metallischen Hufe für den Schriftsteller geschwungen, ihn getragen auf dem langen epischen Trail durch die Prärie seiner Bücher. Sein gesamtes damaliges Lebenswerk hatte Mc-Carthy auf der Olivetti getippt, zehn veröffentlichte und drei unveröffentlichte Romane, Theaterstücke, Drehbücher und seine Korrespondenz - insgesamt rund fünf Millionen Wörter, von denen viele so selten sind wie ein Wasserloch in der Wüste. McCarthy ist bekannt für seinen unerschöpflichen Wortschatz. Die Sprache öffnet ihm ein Territorium, das es in allen Richtungen abzureiten gilt. Eine Wortschatzanalyse zeigte, dass es allein in seinem Roman "Suttree" 4567 Vokabeln gibt, die in keinem anderen seiner Bücher vorkommen.

Abgeworfen hat die Olivetti ihren Reiter nie, denn McCarthy kennt nach eigener Aussage keine Schreibkrisen, auch wenn er einräumt, ein Buch, das einen nicht an die Grenze zum Selbstmord treibe, lohne sich gar nicht erst anzufangen. Über die Lowtech-Voraussetzungen, unter denen McCarthys gewaltiges Werk entstand, sagte der Auktionator von Christie's damals, das sei etwa so, als wäre der Mount Rushmore mit einem Schweizer Armeemesser geschnitzt worden. Und in der Tat ist es eine sonderbare Vorstellung, dass diese erratischen, gleich Felsnadeln monolithisch aus der Gegenwartsliteratur herausragenden Bücher auf einer Reisemaschine geschrieben wurden, die zu den leichtesten gehörte, die es seinerzeit zu kaufen gab. Leicht musste sie sein, ein wendiger Mustang, weil McCarthy damals ein Vagabundenleben führte. Heute ist er nur noch vor der Publicity auf der Flucht.

McCarthy meidet die Öffentlichkeit

Cormac McCarthy, der den National Book Award und den Pulitzerpreis erhalten hat, meidet die Öffentlichkeit, er erscheint nicht zu seinen eigenen Preisverleihungen, lukrative Vortragsangebote lehnte er auch schon ab, als er sich noch als Automechaniker und Maurer durchschlug. Den Literaturbetrieb verachtet er, Lesungen aus eigenen Werken hält er für "Hurerei", gerade mal drei Interviews hat er in seinem Leben gegeben, ein einziges davon im Fernsehen, bei Oprah Winfrey. McCarthy kommuniziert nur über seine Bücher mit dem Publikum, und das hat mit seiner Auffassung von Literatur zu tun. Denn auch in seinem Schreiben ist er ein Loner, ein einsamer Cowboy, der sich dem Fortschritt verweigert. Psychologie, das Arkanum der modernen Literatur, sucht man in seinen Büchern vergebens, es gibt bei ihm keine Reflexion und keine Innenschau.

Schwer lesbar sind vor allem die frühen Bücher, fast hermetisch, doch McCarthys komplexe Poetologie ist nicht als Verrätselung für professionelle Spurenleser gemeint, sondern entspringt seinem pessimistischen Individualismus: Grundständiges Misstrauen gegenüber Autoritäten liegt einem Formprinzip zugrunde, das einen archimedischen Punkt des Erzählens für fragwürdig hält. Polyphon und vielfach gebrochen ist diese Narration, gleichsam nomadisch, die auktoriale Erzählstimme fungiert als Demiurg einer unvollkommenen Schöpfung. Dieser Weltenlenker ist einer, der resigniert die Zügel schießen lässt. "Bücher werden aus Büchern gemacht", sagt McCarthy. Und: "Wenn Schreiben mit dem Leben zu tun hätte, wäre jeder Schriftsteller." Nicht die besten Voraussetzungen, um Leser zu gewinnen.

Wanderprediger des Grauens

Jahrzehntelang galt Cormac McCarthy als der beste unbekannte amerikanische Autor. Staub aufgewirbelt hat erst 1992 sein fünfter Roman "All the Pretty Horses" (All die schönen Pferde), der Auftakt seiner Border-Trilogie, verfilmt mit Matt Damon und Penélope Cruz. Da war McCarthy 59 und hatte seine beiden wichtigsten Bücher "Suttree" (Verlorene, 1979) und "Blood Meridian" (Die Abendröte im Westen, 1985) bereits geschrieben. Bis zum Bestseller-Erfolg konnte er von all seinen Titeln gerade mal 2500 Exemplare verkaufen.

Nach zwei abgebrochenen Studiengängen und vier Jahren bei der Air Force hatte McCarthy 1964 das Manuskript von "The Orchard Keeper", einem spukhaften Kaleidoskop der Gewalt in der Tradition der southern gothic, an Random House geschickt, angeblich der einzige Verlag, den er kannte. Dort fiel es Albert Erskine in die Hände, dem legendären Lektor von William Faulkner, mit dem McCarthy später immer wieder verglichen wurde. Erskine erkannte sofort, dass dieser Autor ein ganz Großer ist und: absolutes Kassengift. Zwei weitere Romane folgten, 1968 "Outer Dark" (Draußen im Dunkel), eine abgründige Inzestgeschichte um ein elternloses Geschwisterpaar und dessen Odyssee durch ein Südstaaten-Inferno, wo Kannibalen Babys schlachten und ihr Blut trinken. Und 1973 "Child of God", das von einem geistig zurückgebliebenen Killer erzählt.

Nach der Trennung von seiner zweiten Frau erschien ein autobiografischer Roman, an dem McCarthy zwanzig Jahre geschrieben hatte. "Suttree" ist ein Porträt des Künstlers als junger Herumtreiber. Der Titelheld wohnt auf einem Hausboot im Tennessee River, lebt vom Fischfang und verprasst sein weniges Geld in Kneipen und Bordellen. Erzähltechnisch von James Joyces "Ulysses" beeinflusst, schildert McCarthy mit überbordender, deliranter Sprachmacht die Stadt Knoxville als phantasmagorische Nekropole.

Leben als Outcast

Zu dieser Zeit führte McCarthy selbst das Leben eines Outcast, hauste in billigen Motels und hatte immer eine 100-Watt-Birne dabei, um in den schummrigen Absteigen Leselicht zu haben. Für seinen einzigen historischen Roman "Blood Meridian" recherchierte McCarthy im Südwesten an der mexikanischen Grenze. Das Buch handelt von einem 14-jährigen Jungen, der sich um das Jahr 1850 einer Bande von Skalpjägern anschließt, angeführt von dem dämonischen Richter Holden, einem haarlosen Hünen, bestialischen Schlächter und selbsterklärten Übermenschen, der eine Halskette aus verdorrten Menschenohren trägt. Der Roman ist eine einzige Gewaltorgie und ein schonungsloser Abgesang auf den "Frontier"-Mythos des amerikanischen Expansionismus, eine große Parabel über eines der grausamsten Kapitel der US-Geschichte, mit der McCarthy seinen Rang als apokalyptischer Rhapsode festschrieb.

Cormac McCarthys Epik gleicht einem eisigen Sengstrahl, von archaischer Wucht sind seine ausufernden Landschaftsschilderungen. Die endlosen, am Sprachduktus der King-James-Bibel geschulten Parataxen erzeugen einen zähen und doch treibenden Rhythmus und bilden eine Trägerwelle, weshalb seine Theaterstücke weniger überzeugen als die Prosa. McCarthys Sound ist der psalmodierende, schwere Gesang eines Wanderpredigers des Grauens. Die Dialoge, stark dialektal geprägt vom southern drawl, zeugen vom verkümmerten Innenleben der Figuren - naturalistischen Verismus hat man das genannt - und stehen in schroffem Gegensatz zur elaborierten Sprache der Beschreibungen, diesem gleißenden Tableau einer ins Mythische überhöhten Leere.

Eine weitere Diskrepanz besteht darin, dass McCarthy die ruchlosesten Akte der Gewalt emotionslos schildert, ohne Empathie oder Wertung, aber der Natur seine ganze barocke Emphase zukommen lässt, als hätten die belebte und die unbelebte Schöpfung ihre Rollen vertauscht. Keiner schreibt so hinreißend über die schrecklichsten Taten, bei McCarthy gemahnen sie an heidnische Rituale, Blutopfer und schwarze Messen.

Frauen spielen kaum keine Rolle

Mit seiner Border-Trilogie wurde McCarthys Stil einfacher, sehniger, gleichsam ausdefiniert. "All die schönen Pferde" ist eine chronologisch erzählte straight story. Zum ersten Mal in seinem Werk gibt es sogar eine Romanze. Der junge Held verliebt sich in die Tochter des mexikanischen Ranchbesitzers, daraus entsteht der Konflikt. Doch Frauen spielen im Werk McCarthys in der Regel keine Rolle, seine Welt ist männlich und agonal besetzt.

Das Western-Sujet und die Glättung seiner Sprache ist McCarthy als Zugeständnis an den Lesergeschmack ausgelegt worden. Dabei ist der Cowboy in der in den Vierzigerjahren angesiedelten Border-Trilogie eine anachronistische Figur. Die archetypischen Protagonisten, wie so oft bei McCarthy halbwüchsige Jungen, die elternlos aufwachsen, müssen erleben, wie der Stacheldraht der Domestizierung ihrem Freiheitsdrang immer engere Grenzen zieht. Sie gleichen der Wölfin, mit der Billy im zweiten Teil "The Crossing" (Grenzgänger, 1994) durch die Steppe zieht und die irgendwann eingefangen wird. Am Ende des Romans wird Billy geweckt vom Blitz einer Atombombe, die in der Wüste gezündet wird.

Zivilisation ist bei McCarthy zerstörerisch, die friedliche Zähmung der Naturgewalt für ihn die Illusion der amerikanischen Landnahme. Die Natur hält er für zutiefst a-human, und der Mensch ist Teil dieser Natur, ihr schlechtester Teil. Alle drei Romane, deren letzter "Cities of the Plain" (Land der Freien, 1998) die Protagonisten der vorigen Bücher zusammenführt, sind metaphysische Spätwestern im Cinemascope-Format, Beckettsche Endspiele in der Wüste, welche die Kulisse abgibt für McCarthys morbides Mysterientheater.

Auch in "No Country for Old Men" (Kein Land für alte Männer, 2005), der von den Coen-Brüdern kongenial verfilmt wurde, laden der Sheriff und sein Deputy noch einmal die Pferde aus dem Trailer, um das unzugängliche Gelände abzureiten - ein Sinnbild für ihre Unterlegenheit gegenüber den SUVs der Drogenmafia. Der Roman, der ursprünglich ein Drehbuch war, bevor aus ihm wieder ein Filmskript wurde, orientiert sich formal am Hard-Boiled-Krimi, spielt aber nur mit Versatzstücken des Genres, um sie in eine große Allegorie auf die Ohnmacht des Guten gegenüber dem Bösen zu überführen, letzteres personifiziert von dem Auftragskiller Chigurh, einem nihilistischen Großinquisitor, der mit einem Bolzenschussgerät tötet.

Moralismus, kalibriert wie ein Revolver

Es ist stets von Vorteil, wenn ein Schriftsteller etwas von den Sachen versteht, über die er schreibt. McCarthy kennt sich nicht nur mit Pferden und Topografien aus. Minutiös schildert er in "No Country", was für Waffen im Spiel sind, welche verheerenden Verletzungen sie anrichten und wie man diese Wunden selbst versorgt. Die Akribie im grausigen Detail ist kein Selbstzweck, sondern gehört zu McCarthys negativer Theologie. Der rächende Gott exekutiert sein Strafgericht, und ein Schrotkorn ist ihm groß genug, um sich zu manifestieren. McCarthy kalibriert seinen unerbittlichen Moralismus wie einen Revolver.

"Sind wir immer noch die Guten?", fragt der Junge immer wieder den Vater in McCarthys bislang letztem, ebenfalls in Hollywood verfilmtem Roman "The Road" (Die Straße, 2006). Das Kind ist eine Messias-Figur, die aufpasst auf den Vater und dessen Waffe. Das Buch, ein postapokalyptisches Roadmovie, spielt nach einer atomaren Katastrophe. Vater und Sohn ziehen durch das verwüstete Land, auf der Suche nach Nahrung und Menschen, die noch nicht Kannibalen geworden sind. Hier kommen zwei Leitmotive McCarthys zu sich: das Motiv der umgekehrten Quest, der spirituellen Suche, die nur noch bedeutet, dass sterben muss, wer nicht in Bewegung bleibt. Und seine Topik der Landschaftsschilderung. In der Feier einer unverfügbaren Natur, die nicht mehr als Nutzfläche taugt, erfüllt sich die Kunst dieses Autors.

Auch am Ende dieser Straße wartet wie so oft bei dem Endzeit-Visionär McCarthy der Tod. In seiner Welt gibt es keine Erlösung, und deshalb ist der bei ihm häufigste Satz "Sie zogen weiter" perfekt für einen, dessen Schreiben ein einziger Zug ist in die eschatologische Abendröte des Westens. Längst hat der Gigant wieder aufgesattelt, schreibt an einem neuen Roman. Diesmal mit einer weiblichen Hauptfigur und, klar, es wird wieder ein langer Ritt werden. Als Reisevehikel hat sich Cormac McCarthy, der an diesem Samstag achtzig wird, abermals für eine gut erhaltene Olivetti Lettera 32 entschieden. Sie hat ihn gerade mal elf Dollar gekostet, zuzüglich Versand.

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