Süddeutsche Zeitung

Constanze Neumanns Familienroman "Wellenflug":Eine Villa im Tiergarten

Die Verlegerin Constanze Neumann spürt in ihrem Roman "Wellenflug" dem Verschwinden ihrer jüdischen Familie nach.

Von Jörg Magenau

Die Familie ist oft die direkteste Verbindung mit der Geschichte. Verwandtschaft ist nicht nur eine Imagination, sie kann auch ein Prisma sein, sie bietet einen persönlichen Zugang zur Vergangenheit. Je mehr man weiß über die eigene Herkunft, desto deutlicher steht einem auch eigene Stellung in der Welt vor Augen.

Auf diese Weise schreibt sich Constanze Neumann, Leiterin des Berliner Aufbau-Verlages, in ihrem zweiten Roman in das Leben von Figuren aus ihrer Familie hinein. Anna Reichenheim, eine von zwei starken Frauen dieses Romans, ist ihre Ururgroßmutter, von der außer einem Gemälde und verstreuten Hinweisen wenig überliefert ist. Sie war die strenge Matriarchin eine großbürgerlichen, schwerreichen, jüdischen Familie im Berlin der Belle Époque, früh verwitwet nach dem Tod des kränkelnden Gatten, doch dann in zweiter Ehe mit dessen deutlich älterem Bruder Julius Reichenheim verheiratet. Mit ihrer Kindheit setzt der Roman im Jahr 1864 ein. Constanze Neumann zeichnet das Bild einer Tuchhändlerdynastie, die in den obersten Kreisen der Gesellschaft verkehrte, eine Villa in Berlin-Tiergarten baute und mit dem Handel guter englischer Stoffe viel Geld verdiente.

Warum der älteste Sohn Heinrich Deutschland nicht verließ, ist seither in der Familie ein Rätsel

Annas ältester Sohn Heinrich interessiert sich nicht für die Geschäfte des Vaters, sondern verbringt seine Nächte lieber in fragwürdigen Etablissements, um seiner Spielsucht nachzugehen. Nachdem er einen Wechsel mit der Unterschrift des Vaters fälscht, weil er seine Schulden nicht bezahlen kann, und das alles andere als standesgemäße Garderobenmädchen Marie heiratet, wird er vom Vater enterbt und von der Mutter verstoßen, die für den Rest ihres Lebens unversöhnlich bleibt. Aus Anna, die als junges Mädchen so liebenswert erschien, wird eine hartherzige Matrone, die wie eine Spinne im Zentrum sitzt und weder mit Marie noch mit ihrem Enkel je reden wird.

Der zweite Romanteil ist aus der Perspektive Maries erzählt. Sie ist ihrem unzuverlässigen Mann eine treue Begleiterin, geht mit ihm in die USA, zunächst nach New York, dann nach Erie in Pennsylvania, wo er hofft, als Mitarbeiter einer Papiermühle endlich Erfolg zu haben. Es kommt, wie immer, anders. Mit dem Ersten Weltkrieg gehen beide, die kinderlos bleiben, zurück nach Deutschland und erleben dort, in Dresden, die Kriegsfolgen: Inflation, Weltwirtschaftskrise und den Aufstieg der Nazis. Heinrich wird schließlich, 1943, nach Auschwitz deportiert.

Warum er Deutschland nicht verließ, ist seither in der Familie, die in die ganze Welt, von Brasilien über Jamaica bis nach Indien verstreut wurde, ein Rätsel, das auch der Roman von Constanze Neumann nicht lösen kann. Doch zuvor entdeckt Marie ein anderes Geheimnis. Heinrich hat einen unehelichen Sohn aus einer seiner vielen Affären, den er in einem Kinderheim versteckt. Marie holt ihn dort heraus, nimmt ihn auf wie einen eigenen Sohn, bis er sich vor den Nazis auf einem Bauernhof verbergen muss. Dieser Sohn, der den Holocaust überlebte, ist der Großvater der Autorin. Mit persönlichen Erinnerungen an ihn setzt das Buch ein.

Die erste Romanhälfte um Anna liest sich in ihrer raschen Folge von Todesfällen, Heiraten und Geburten wie eine Chronik. Teil zwei um Marie als Hauptfigur ist emotionaler, dichter und packender. Das hat auch damit zu tun, dass Reichtum weniger interessant ist als die Irrungen und Wirrungen des entbehrungsreicheren Lebens, des Ringens um Eigenständigkeit und des Kampfes gegen die Armut. Die beiden Teile verhalten sich zueinander wie Innen- und Außenseite der Familiengeschichte, die aber gerade aus der Distanz des verstoßenen Sohnes und seiner Frau zu schillern beginnt. Besonders ergreifend ist die Szene, in der Marie mit dem kleinen Sohn, um ihn der Großmutter vorzustellen, in der Berliner Villa vorspricht, dort aber nach langer Wartezeit nicht empfangen wird.

Mit den Juden wurden auch ihre Orte vernichtet, die Auslöschung war total

Constanze Neumann hat gründlich recherchiert. Sie hat mit Familienmitgliedern gesprochen, mit denen sie bis dahin nichts zu tun hatte, hat in Archiven geforscht, war auch in Auschwitz, um dort Genaueres über den Tod des Urgroßvaters zu erfahren. Dabei hat sie die Erfahrung gemacht, dass alle Orte - Berlin, Dresden, Leipzig, und schließlich auch Auschwitz - nichts mehr preisgeben, weil sie mit den Orten von damals nichts mehr zu tun haben.

Alles ist gründlich zerstört und verwandelt. Das ist Teil der deutschen Geschichte, aber mehr noch der jüdischen. Mit den Juden wurden auch ihre Orte vernichtet, die Auslöschung war total. Deshalb können erst der Roman und damit die Fantasie der Autorin die verlorene Welt rekonstruieren und dem Vergessen lebende Figuren entgegensetzen. Nur in Amerika ist das anders: In Erie steht noch das Wohnhaus von Heinrich und Marie, die Straßen sehen so aus wie damals.

Einige Briefe hat Constanze Neumann wortwörtlich in den Roman integriert, so auch den kleinen, bescheidenen Abschiedsbrief, den Marie kurz vor ihrem Tod an den Sohn schrieb, um ihn zu bitten, sich um ihre Beerdigung und eine Urne zu kümmern. Brüche zwischen dokumentarischem Material, recherchierten Fakten und ausschmückender Fiktion in Gesprächen, Gedanken und Empfindungen der Figuren sind aber nirgendwo zu erkennen.

Das hat damit zu tun, dass Constanze Neumann einen Stil gewählt hat, der so wirkt, als handle es sich tatsächlich um einen Gesellschaftsroman aus dem späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert, vielleicht von Georg Hermann, der in seinen Erfolgsbüchern ein ganz ähnliches Bild vom Berlin der Kaiserzeit überliefert. "Wellenflug" steht in dieser Erzähltradition, realistisch, unterhaltsam, ereignishaft, und zeichnet das eindrückliche Bild einer versunkenen Epoche.

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