Süddeutsche Zeitung

Computerspiel "Californium":Wahnsinn, Drogen und sprechende Fernseher

Lesezeit: 4 min

Philip K. Dick gilt als einer der bedeutendsten Science-Fiction-Autoren aller Zeiten. Das Computerspiel "Californium" setzt ihm jetzt ein virtuelles Denkmal, das man besichtigen muss.

Von Philipp Bovermann

"Californium" ist ein künstlich erzeugtes radioaktives Metall. Unter der Ordnungszahl 98 findet man es im Periodensystem der Elemente. Künstlich erzeugt und giftig strahlend ist auch die Welt, die man im gleichnamigen Computerspiel betritt. Es geht um Wahnsinn, Drogen, sprechende Fernseher, Paranoia und das Hämmern auf Schreibmaschinen - es geht um den Science-Fiction-Autor Philip K. Dick.

Arte Creative, die Kreativ-Abteilung des Fernsehsenders, hat sich mit den französischen Entwicklern von Darjeeling und Nova Production zusammengetan, um ein Computerspiel zu programmieren, das man jetzt über die Arte-Mediathek und bei verschiedenen Spieleanbietern herunterladen kann, bei Arte sind die einzelnen Spielepisoden sogar kostenlos erhältlich.

Es sei eine interaktive "Liebeserklärung" an Philip K. Dick, heißt es von den Produzenten. Sein Universum sei "einfach zu fantastisch und zu vielschichtig, um es bloß nachzuerzählen" oder als "x-te Vorlage für einen Film" zu bemühen. Von Dick stammen die Vorlagen für Klassiker wie "Blade Runner" und "Total Recall". In Dicks Welten wirken thermonukleare narrative Reaktionen, an deren Ende eine Wirklichkeit steht, von der man sich nicht sicher sein kann, ob sie nur eine Simulation ist.

"Woher wissen wir, was normal ist?"

Im Roman "Marsianischer Zeitsturz" etwa beschreibt er einen autistischen Jungen in einer Marskolonie, dessen Zeitwahrnehmung nicht linear funktioniert. Als ein Geschäftsmann versucht, dieses Talent für seine Zwecke auszubeuten, gerät alles aus den Fugen. Es gibt bei Dick keine Realität als metaphysische Konstante, in der die verschiedenen Zeitebenen geordnet werden könnten.

"Woher wissen wir, was normal ist?" lautet die Frage eines Protagonisten; sie bestimmt Dicks gesamtes Werk. Er übersetzt gewissermaßen die paranoiden Delirien Kafkas in naturwissenschaftlich konkrete Modelle. Eine der Schlüsselszenen von "Marsianischer Zeitsturz" wiederholt sich mehrmals, jedes Mal surrealer, chaotischer als zuvor.

Auf der Suche nach den Inkohärenzen im virtuellen Gefüge

Auch in "Californium" bereisen wir verschiedene Zeit- oder Wirklichkeitsebenen einer immer gleichen Umgebung. Der Spieler steuert in der Ich-Perspektive einen heruntergekommenen und vermutlich wahnsinnigen Schriftsteller durch ein comicbuntes Kalifornien der Siebzigerjahre. Die enge Spielwelt ist biografisch entlehnt, sie besteht nur aus einer chaotischen Wohnung und dem umliegenden Häuserblock. Tatsächlich hatte Dick Angst vor öffentlichen Plätzen. Er verließ seine Wohnung nur sehr selten.

Vor der Tür des Apartments steht Donna, eine Figur aus "Der dunkle Schirm". Darin schildert Dick die geistigen und sozialen Verwüstungen durch jene Drogen, unter deren Einfluss er, laut eigener Aussage, alle seine vor 1970 veröffentlichten Bücher schrieb. Dieses, sein am stärksten autobiografisches Buch, betrachtete er auch als sein Meisterwerk.

Ziel des Spiels ist die Suche nach dem, was man "Lags" nennt: nach Programmierfehlern und den Inkohärenzen im virtuellen Gefüge. Teile der Welt veralten etwa spontan, zerfallen zu Staub, ein elektrischer Fahrstuhl wird durch einen mechanischen mit Gittertür ersetzt, es kommt zu Überlagerungen, vergleichbar den Fehlern in der "Matrix", nach denen man nun in "Californium" sucht: wandernde Kisten, sich drehende Straßenlaternen.

Hat man einen solchen Fehler entdeckt, taucht ein leuchtendes Markierungssymbol auf. Sobald man es anklickt, überformt eine alternative Realität einen Teil des Raums rund um die Anomalie, zugleich durchwuchert dadurch das schriftstellerische Werk die Biografie. Aus dem Schreibtisch mit dem zerknüllten Schreibmaschinenpapier und den Aschenbechern wachsen ein Bücherschrank, Propagandaposter, alles in kühlem Blau statt der ursprünglich bonbonfarbenen Welt.

Teile eines faschistischen Polizeistaats im Stil von "Das Orakel vom Berge" werden sichtbar. Darin imaginiert Dick einen alternativen Geschichtsverlauf, in dem die Achsenmächte den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben. Gute Science-Fiction packt eben die Gegenwart nicht einfach in einen Raumanzug, sondern treibt mit der imaginierten Zukunft einen Spalt in sie hinein.

"The future is but the obsolete in reverse" ("Die Zukunft ist nur das umgekehrt Altmodische"), formuliert es Nabokov in seiner Science-Fiction-Kurzgeschichte "Lance". Dazu passt der futuristische Look, den man diesem Kalifornien der Siebziger verpasst hat. Der Riss durch Geschichte und Wirklichkeit vertieft sich im Verlauf des Spiels. Insgesamt vier Realitätsebenen wird der Spieler durchwandern - und durcheinanderbringen.

Es passiert im Grunde nichts

Nur: dabei passiert nichts. "Californium" ist ein Philip-K.-Dick-Museum, das sich selbst zur Erkundung anbietet, so wie der Agent Fred in "Der dunkle Schirm" sich selbst als Zielperson überwacht. Man läuft herum, wie körperlos in der Ich-Perspektive, sucht nach den Anomalien, weil sie eine Handlung vorantreiben, die es gar nicht gibt; eine Erzählstimme aus dem Off kommentiert sie mit Zitaten.

Die Macher des Spiels haben so eine Art inversen Gegenentwurf zu den Verfilmungen von Dicks Büchern geschaffen: Dort betrachtet der Zuschauer regungslos sich bewegende Bilder, hier wird er konfrontiert mit einer Welt, bevölkert von in der Gegend herumstehenden Figuren, wie durch eine vorangegangene Katastrophe schockgefroren.

"Das hier sind psychische Projektionen, Meister", warnt eine der Erscheinungen

Es ist eine von Dicks wiederkehrenden Ideen. In "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?", der Vorlage für den Film "Blade Runner", beschäftigt ihn die Frage: Wie wäre es, wenn die Menschen, denen man begegnet, Roboter sind?

"Das hier sind alles psychische Projektionen, Meister", warnt uns in "Californium" eine der Erscheinungen. Sie sagen Sätze auf, wenn man sich ihnen nähert, antworten kann man nicht. Interaktion mit dieser Welt findet nicht statt. Allerdings findet sie in umgekehrter Richtung auch nicht statt - es macht daher Sinn, dass in der Arte-Creative-Reihe, in deren Kontext "Californium" entstanden ist, außerdem die Dokumentation "Philip K. Dick und wie er die Welt sah" und der für Virtual-Reality- Brillen konzipierte 360-Grad-Kurzfilm "I, Philip" erschienen sind.

Den "dunklen Schirm", den "Riss", aber einmal von der anderen Seite zu erkunden, dürfte ganz im Sinn des Geehrten sein. "Californium" setzt Philip. K. Dick ein virtuelles Denkmal, das man besichtigen muss. Denn sehen heißt glauben. Anomalien sehen heißt zweifeln.

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Quelle:
SZ vom 16.03.2016
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