Comics:Manga, die unterschätzte Kunstform

Comics: Fragmente eines zugleich vertrauten und abwegigen Alltags: Szene aus dem Kurzgeschichtenband "Das Ende der Welt vor Sonnenaufgang".

Fragmente eines zugleich vertrauten und abwegigen Alltags: Szene aus dem Kurzgeschichtenband "Das Ende der Welt vor Sonnenaufgang".

(Foto: Tokyopop)

Die japanischen Comics werden bisweilen als "Kinderkram" verunglimpft. Dabei eröffnen sie eine vielfältige, bizarre und liebenswerte Bildwelt.

Von Juliane Liebert

Manga ist die womöglich unpopulärste unter den populären Kunstformen. Selbst viele Comicleser haben sich noch nie mit Manga beschäftigt. Das hat seine Gründe: Jahrelang haben sie dafür geschwitzt, ihre Kunst anerkannt zu bekommen, haben GRAPHIC NOVEL und ANSPRUCHSVOLL über ihre geisteswissenschaftlichen Panels geschrieben, bis wirklich jeder die Botschaft verstand: Comics sind kein Kinderkram!

Dann kam Manga, und Manga war noch viel weniger Kinderkram, oder vielmehr: die Art "Kinderkram", die viele erst recht die Stirn runzeln ließ. Manga hatte jugendliche Charaktere und bunte Farben, behandelte aber gleichzeitig Themen wie extreme physische und psychische Gewalt, und, natürlich, Sex.

Noch 2016, also über ein Dutzend Jahre, nachdem der Aufstieg der Manga in Deutschland begann, sind die Vorurteile so lebendig wie eh und je. Auf Twitter kursierte neulich der hässliche Hashtag "mangamissgeburten" - mit Statements wie "am #japantag kommen die #Manga Missgeburten aus Fukushima gekrochen".

Neben solchen Auswüchsen gibt es gerade in Deutschland immer noch eine beidseitige Abgrenzung von Manga und Comic. Manche Studierende in Bereichen wie Design und bildende Kunst verschweigen ihre Neigung und achten bei Bewerbungsmappen streng darauf, dass man ihre Mangaeinflüsse nicht erkennt. Wer sich den Vorurteilen hingibt, verpasst allerdings - ja was eigentlich?

Mit dem Müll in der linke Hand beginnt das Abenteuer

Das ungeschriebene Gesetz lautet: Wer über Manga oder Anime sprechen will, hat folgende Stichworte zu nennen: "große Augen" "Schulmädchen", "Gewalt", und ja, die finden sich. Das Gehirn, heißt es, beantwortet immer die Fragen, die man ihm stellt. Wer diese Stichworte durch andere, zum Beispiel "Tiefsinn" und "Anspruch", ersetzt, wird überrascht sein, diese genauso anzutreffen. Die Mangaszene in Deutschland, hauptsächlich von den Verlagen Carlsen, Egmont Manga und Tokyopop bedient, ist mittlerweile ungeheuer vielfältig.

"Das Ende der Welt vor Sonnenaufgang" etwa, ein 2015 bei Tokyopop erschienener Kurzgeschichtenband von Inio Asano, erzählt in cineastisch anmutenden Panels Fragmente eines zugleich vertrauten und abwegigen Alltags: In einer Erzählung will ein Mädchen den Müll herunterbringen. Ihre Vermieterin hat einen Zettel angebracht, es sei "schlechtes Benehmen", das außerhalb bestimmter Zeiten zu tun. Just in dem Moment, als sie ihren Beutel trotzdem schnell entsorgen will, schiebt besagte Vermieterin ihre fiese Visage um die Ecke, und das Mädchen beschließt, einen Spaziergang zu machen: Mit dem Müll in der Linken beginnt ihr Abenteuer.

Die Bildsprache der Mangas wurde über Jahrhunderte hinweg perfektioniert, das demonstriert etwa die Serie "Clover" des Zeichnerteams Clamp. Die vier Bände des 2001 bei Carlsen erschienenen Werkes sind ein grafisches Meisterwerk, das von Minimalismus und Auslassung lebt. Ganze Panels bleiben schwarz, die Figuren sind allein im Bild, das nur durch Licht und Schatten gegliedert wird, Sprechblasen werden zu Mustern. In "Clover" geht es, wie nicht selten im modernen Manga, um Isolation. Ein anderes wiederkehrendes Thema ist Krieg.

Irritierende Einfachheit der Gesichtszüge

Im 2016 in Deutschland erschienenen "Daisy aus Fukushima" von Reiko Momochi wird die Geschichte über die Folgen des Reaktorunfalls in Fukushima mit dem feinstrichigen, eher kitschigen Stil des Shojo Manga verbunden. Die Reifung der Themen mag damit zusammenhängen, dass der durchschnittliche Leser von Mangamagazinen wie "Young Jump" in Japan inzwischen über dreißig ist, ernste Themen gab es aber schon immer.

Unter den Anime ist der fantastische, todtraurige Klassiker "Die letzten Glühwürmchen", der wiederholt auf Arte lief, einer der bekanntesten. Darin wird die Geschichte zweier Kinder erzählt, die in den Wirren des Zweiten Weltkrieges zu überleben versuchen. Hat man sich einmal an sie gewöhnt, verstärkt die anfangs irritierende Einfachheit der Gesichtszüge die Identifikation mit den Figuren noch, da sie hoch expressiv und leer zugleich sind - ein emotionaler Bluescreen.

Und dann gibt es noch die Werke, die - jetzt ganz tapfer sein! - kommerziell und anspruchsvoll zugleich sind, in denen etwa in einer sorgfältig erzählten Geschichte Schulmädchen mit riesigen Brüsten Arthur Schopenhauer zitieren und zugleich Unterwäscheblitzer zeigen.

Das trifft einen weiteren Kern der Sache (beim Manga handelt es sich eher um einen Granatapfel als um eine Pflaume): Das Kommerzielle und die Machbarkeit konkurrieren nicht selten mit dem künstlerischen Anspruch, da unterscheiden sich Manga und Anime kaum von anderen Pop-Gattungen. Deshalb bedienen viele Studios in Aussehen und Inhalt die Nachfrage der Fans.

Schulaufgabe: Die Menschheit retten

Und ja: Mit Mangas lässt sich Geld verdienen. Kai-Steffen Schwarz, Programmleiter beim Carlsen-Verlag für den Bereich Manga, schätzt den Jahresumsatz aller Verlage im deutschsprachigen Raum derzeit auf rund 40 Millionen Euro. Außerdem spricht er von jährlichen Umsatz-Steigerungsraten von rund zehn Prozent in den letzten fünf Jahren. Momentan am erfolgreichsten ist die Serie "Dragon Ball" von Akira Toriyama (bei Carlsen), es sind 42 Bände erschienen, nach Angaben von Schwarz wurden über acht Millionen Exemplare verkauft.

Dass Mangas so erfolgreich sind, liegt womöglich auch an den kulturellen Unterschieden, die zuerst befremdlich wirken, näher betrachtet aber ihren eigenen Reiz entfalten. Mangas überschreiten Grenzen, die sich der "Westen" nicht träumen ließe. In "Assassination Classroom" beispielsweise, einer Serie, die seit 2014 bei Egmont läuft, geht es um eine Klasse, deren Aufgabe es ist, ihren Lehrer zu töten.

Der ist natürlich kein richtiger Lehrer, sondern ein außerirdisches Monster, ein Krake mit Smileykopf, der aus tofuartigem, sich regenerierendem Gewebe besteht. Die Schüler sollen ihn auf Wunsch des Außenministeriums töten, um die Menschheit zu retten - und eine Belohnung von 10 Milliarden Yen einzustreichen. Was klingt wie im Vollrausch ausgedacht, ist tatsächlich ein unkonventioneller und erstaunlich spannender Manga - wenn man sich darauf einlässt.

In diesem Sinne: Wer seine Vorurteile revidieren will, schaue sich den Film "Die letzten Glühwürmchen" an. Er lese die wunderbaren Bücher von Jirō Taniguchi, gucke mit seinen Kindern die Filme aus den Ghibli Studios (der berühmteste dürfte "Chihiros Reise ins Zauberland" sein) oder gebe der avantgardistischen Anime-Serie "Serial Experiments Lain" eine Chance (besser ohne die Kinder!).

Denn was den meisten Comic-Liebhabern (und Manga-Verächtern) bisher entgangen ist, ist ein ganzes Universum, so vielfältig, bizarr und liebenswert wie das wirkliche, wenn nicht noch ein bisschen vielfältiger, bizarrer und liebenswerter.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: