Süddeutsche Zeitung

Comic:"Rusty Brown" von Chris Ware

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Von Thomas von Steinaecker

Es gibt nicht wenige, die sprechen von Chris Ware als von einem "Gott". Tatsache ist, dass Ware den Ruf hat, die Kunst des Erzählens revolutioniert zu haben. Das liegt vor allem an der Graphic Novel "Jimmy Corrigan" von 2001, die auf anspruchsvolle und zugleich unterhaltsame Weise die Geschichte eines amerikanischen Jedermanns im 20. Jahrhundert erzählt: weiß, ängstlich, aggressiv und liebesbedürftig. Ware hat direkt nach der Vollendung dieses Opus magnum mit der Arbeit an "Rusty Brown" begonnen, der nun, fast 20 Jahre später, auf Englisch erscheint ( Jonathan Cape). Entstanden ist ein "Ulysses" für das 21. Jahrhundert. Ware konzentriert sich hier auf das Geschehen eines einzigen Tages Mitte der 1970er in einer Kleinstadt in Nebraska, was ihn aber nicht daran hindert, in der Zeit vor und zurück zu springen. Der Schuljunge Rusty ist dabei nur eine von vier Hauptfiguren, deren Biografien wir kennenlernen - und mindestens eine ist auf eine Weise erzählt, die die Möglichkeiten der Neunten Kunst wie nebenbei auf eine neue Stufe hebt: Im Kapitel über den Redneck Jason Lint, das auf knapp 100 Seiten dessen Leben schildert, nimmt Ware eine radikal subjektive Perspektive ein, wenn sich nach Lints Geburt langsam aus abstrakten Formen Panels bilden und am Ende, bei seinem Tod, seine Wahrnehmung in Punkte zerstäubt. Dabei ist dieser Lint genau wie die übrigen Protagonisten ein ziemlicher Unsympath. Wares Figuren zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie sich durch nichts auszeichnen, außer vielleicht, dass es sich bei ihnen um weiße Loser der unteren Mittelschicht handelt. Wie hier Ware vorführt, was mit den USA nicht stimmt, ist ebenso messerscharf analysiert wie bisweilen fast unerträglich deprimierend - wäre da nicht die formale Meisterschaft, die durch die bloße Schönheit der bunten Bilder und narrative Innovationen fasziniert. Was schließlich Wares Epos von der Unbelehrbarkeit des Menschen doch noch zu einem überraschend warmherzigen Buch macht, ist das letzte Kapitel. Die Lehrerin Joanne Cole bringt darin als einzige Frau und Afroamerikanerin einen ganz anderen Ton in die Geschichte. Trotz ihres schweren Schicksals hat sie nicht ihren Glauben an das Gute verloren. Nur die abgebrühtesten Leser werden auf den letzten Seiten dieses Epoche machenden Buchs nicht mit den Tränen kämpfen. Ein Geniestreich.

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Quelle:
SZ vom 23.11.2019
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