Süddeutsche Zeitung

Comic von Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler:Und immer wieder droht die Sperrstunde

Der Mythos der Prager Nacht war schon immer vom Bierdunst geschwängert: Der Comic "Nachtgestalten" von Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler ist so melancholisch wie komisch.

Von Fritz Göttler

Es gibt doch Hoffnung auf dieser Welt, sagt der eine Mann zum andern, Hoffnung für dich und mich, für uns ... Sie sitzen in einer Kneipe, dürr und stangenhaft der eine, der andere dick und gedrungen, zwei Nachtgestalten, zwei Gefährten der Nacht. Es gibt doch Hoffnung ... nach diesem Satz wird ihnen plötzlich das Licht abgedreht, Sperrstunde, die Stühle sind schon auf die Tische gestellt. Dann stehen sie auf der nächtlichen Straße und gucken, wie der Wirt das Rollo runterlässt. Also setzen sie sich in Bewegung, auf der Suche nach einer Kneipe, die noch nicht geschlossen hat. Und der Diskurs setzt sich fort. Das Prinzip Hoffnung.

Das unermüdliche Weiterundweiter macht den Drive dieses Buches aus, verleiht ihm eine angenehme absurde Zielstrebigkeit. Die Rollo-runter-Szene wird sich noch mehrmals wiederholen, immer wieder wird es ein Licht geben, das aus dem Fenster einer noch offenen Kneipe fällt. Ein street movie, durch das Biotop der Nacht. Die Stadtlandschaft, die die beiden Nachtgestalten durchwandern, hat etwas Stumpfes und Gedrungenes, schwarze Hausblöcke, Dächer, Schornsteine, nichts, das irgendwie Wohnlichkeit beschwören würde, ein Leben anderswo als am Kneipentisch. Der Mond dominiert alles in kosmischer Gleichgültigkeit, manchmal durchstoßen ihn zackige Wolken, porös und geradlinig zugleich.

Prager Noir - das bedeutet heimisch werden in einem natürlichen, lebendigen Schwarz

Das Buch lässt uns heimisch werden im Schwarz, einem natürlichen, lebendigen Schwarz, das mit Weiß und Blau eine behutsame Farbigkeit entwickelt. Ein schwarzer Roman. Prager Noir, das heißt, es ist bei allen Anklängen von Nihilismus und Endzeitstimmung ungemein komisch und fröhlich - und der Mythos der Prager Nacht ist schon immer vom Bierdunst geschwängert. Jaroslav Rudiš, der den Nachtgestalten den Text liefert, hat sich in seinen Romanen in der Tradition von Jaroslav Hašek und Kafka bewährt - Hašek, der ins Wirtshaus ging, um Ideen fürs Schreiben zu kriegen, und dann schrieb, um mit dem verdienten Geld zurück ins Wirtshaus zu können. Nicolas Mahler, der die Bilder schuf, hat in seinen Comics Thomas Bernhard und F. W. Murnaus Filme beschworen, auch Musil, Joyce, Proust oder japanische Monsterfilme. Seine Figuren sind ohne individuelle Züge, die Nasen lang, die Arme eng an die Körper gelegt, außer wenn sie die Biergläser zum Mund heben. Manchmal halten sie inne, um sich eine Zigarette anzustecken, manchmal sieht man, wie über ihnen der Alkoholdunst evaporisiert.

Überreste einer Liebesgeschichte blitzen in den Gesprächen auf, an der beide Nachtgestalten Anteil haben. Hast du eigentlich mit Hana geschlafen?, fragt der Lange, und dass der andere mit Ja antwortet, irritiert ihn sehr. Er hat Hana wirklich geliebt, hat bei ihrer Hochzeit für einen unliebsamen Zwischenfall gesorgt. Aber gegen die Erinnerungen ist das Schweigen nicht hilfreich. "Sag jetzt nichts ..."

Eine Graphic Novel mag man die "Nachtgestalten" nicht nennen, hier ist das Romanhafte auf seine Essenz reduziert, nur manchmal gibt es, zwischen den Bildern der Nacht, Ausbrüche von Action, von Spektakel: ein Wanderausflug auf den Mont Blanc, der in einem teuer bezahlten Rettungsflug im Hubschrauber endet; ein Onkel, der sein Haus in den Bergen in Brand steckt; die Erinnerung an eine große Schlacht der Weltgeschichte, in der schließlich hoffnungsvoll die Sonne durch den Nebel dringt, le beau soleil d'Austerlitz. Eine sanfte Monotonie herrscht ansonsten, wie man sie vom absurden Theater kennt, Beckett, Ionesco, Boris Vian, in den Fünfzigern, als die Schrecken des Weltkriegs noch heftig in Erinnerung waren und sich mischten mit den Ängsten des Kalten Krieges. Die Zeit, da man glückliche Nächte beschwor!

Ich muss einen Magneten irgendwo tief in mir drinnen tragen, seufzt mal der Lange, der zieht die ganzen Katastrophen an. Im Hubschrauber, der ihn aus den Alpen holte, hatte ihm einer der Flieger die Formel vom Ende der Geschichte erzählt. Aber die große Geschichte, die Historie drängt sich in die kleine, persönliche, oft ganz hinterrücks - in Gestalt von Soldaten beim Vorrücken, die von Austerlitz, später die des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Kriege, der Terror, der Faschismus, so werden die "Nachtgestalten" am Ende ein sehr politisches Buch. Der Lange hat über Austerlitz promoviert, aber plötzlich geht's um seine eigene Geschichte, die seiner Familie, die kann man nicht studieren, die muss man erleben. Plötzlich kommt die Mauer eines KZs ins Bild, Stacheldraht und die Inschrift "Arbeit macht frei" über dem Tor. Sein Seufzer: "Die Geschichte macht mich fertig ..."

"Winterbergs letzte Reise" steckt in diesem Buch, so heißt der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch schrieb. Das war eine Reise durch Mitteleuropa, seine Schlachtfelder, Friedhöfe, Ruinen. Auch Austerlitz wird aufgesucht. In "Nachtgestalten" ist das freie Reisen durch Erinnerungen blockiert. Über die Stadt Kolin kann man nur fahren mit einem großen Vorrat an Bier, denn in Kolin wird immer noch Zyklon B produziert. Sie nennen es jetzt Uragan D2. Nur die Natur könnte eine Fluchtmöglichkeit bieten, das Leben wie ein Wisent, in dem Ein- und Zwei- und Mehrsamkeit zeitlich genau in verschiedene Wochen aufgeteilt sind. Eine schöne, eine unnahbare Utopie.

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