Comic:Kraftpakete und Knochengesichter

Angriff der Skorpionmenschen: Der zeichnerische Welten-Schöpfer Jens Harder erzählt das Gilgamesch-Epos neu. Hier werden Ungeheuerlichkeiten zu einem bildhaften Ereignis.

Von Gottfried Knapp

Die Entdeckung der Tontafeln des Gilgamesch-Epos im Jahr 1853 und die allmähliche Rekonstruktion des ältesten überlieferten Schriftwerks aus mehr als 100 in verschiedenen Sprachen abgefassten Textteilen kann als eines der großen Abenteuer der Forschungsgeschichte beschrieben werden. Die im Gilgamesch-Epos erzählte Geschichte aber könnte man als die archaische Urfassung von Götter- und Heldenmythen beschreiben, wie sie in späteren Kulturen mit anderen Details so ähnlich noch öfter erzählt worden sind, als ein bildgewaltiges Konzentrat heldischer Taten und mythischer Geschehnisse, das seit seiner Wiederentdeckung immer wieder Literaten und Musiker zu künstlerischen Nachschöpfungen angeregt hat.

Dass in den vergangenen Jahren gleich zwei deutsche Zeichner eine Nacherzählung in Comic-Form versucht haben, das zeigt, wie machtvoll die im Epos geschilderten Ereignisse ins Bild drängen. Gilgamesch, der gottähnliche König der Stadt Uruk im Zweistromland, wird seines despotischen Regierungsstils wegen von den Göttern bestraft. Er muss mit dem ihm zugeteilten Tiermenschen Enkidu gegen unbesiegbare Ungeheuer antreten und anschließend bei seiner Suche nach dem Lebenselixier die gefährlichsten Zonen der Unter- und Überwelt durchqueren. Am Ende, nachdem er von seinem Urahn Utnapischtim die Geschichte der großen Sintflut und der wunderbaren Rettung irdischen Lebens in der Arche vernommen hat, kehrt Gilgamesch mit der Erkenntnis nach Uruk zurück, dass er als Sterblicher nicht durch Gewalttaten, sondern nur durch gute Werke unsterblich werden kann.

Comic: Jens Harder hat die Reliefs assyrischer und babylonischer Paläste, Tempel, Obelisken studiert. Abb. aus d. bespr. Band

Jens Harder hat die Reliefs assyrischer und babylonischer Paläste, Tempel, Obelisken studiert. Abb. aus d. bespr. Band

In den Neunzigern hat der in Bremen und Thüringen arbeitende Maler und Bildhauer Burkhard Pfister die elf Tafeln des Epos in elf Einzelbänden bildnerisch nacherzählt. Er hat das vielteilige Geschehen dabei auf 400 großformatige, von Texten fast unbelastete Einzelzeichnungen reduziert, die in den Bänden jeweils eine ganze Seite füllen, in ihrer Schwarz-Weiß-Dynamik dem Betrachter also buchstäblich ins Gesicht springen. Pfister hat den Figuren ein vergleichsweise modernes Aussehen gegeben; seine Helden und Götter könnten auch in einem Film Hollywoods auftreten. In der Comic-Szene aber konnten sie sich nie ihrem zeichnerischen Rang gemäß durchsetzen, da der Projekte Verlag Cornelius schon bald nach Erscheinen des letzten Bandes abgewickelt worden ist. Reste der Auflage sind nur noch über den Projekte Verlag Hahn in Halle (Saale) zu beziehen.

Ein vergleichbares Schicksal bleibt der vor wenigen Wochen bei Carlsen erschienenen Graphic Novel "Gilgamesch" von Jens Harder sicher erspart. Harder, der zeichnende Welten-Schöpfer, der Epiker der Uranfänge, hat in "Alpha" und "Beta", den beiden bislang fertiggestellten Bänden seiner groß angelegten Evolutions-Trilogie, seine Leser auf vielfältige Weise gefesselt. Vor allem die Direktheit, mit der er naturwissenschaftliche Phänomene, die sich weitgehend der Vorstellungskraft entziehen, wie etwa der Urknall, springlebendig vors Auge hob, machte die Comic-Welt staunen. Im Gilgamesch-Epos ist die Ausgangssituation genau umgekehrt: Hier muss der Zeichner nicht durch ein Meer wissenschaftlicher Mutmaßungen waten, hier treten reale Figuren auf, deren Aussehen im Text prägnant beschrieben wird. Und auch die urtümlichen kosmischen Geschehnisse, die wilden Taten der Götter und die fantastischen Landschaften, in denen sich die Helden bewegen, werden dem Leser in Beschreibungen beschwörend nahegebracht.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch stellt der Verlag auf seiner Homepage zur Verfügung.

Der Zeichner muss also nur noch eine Form finden, in der er die szenische Überfülle bewältigt. Harder hat, wie er im Anhang darlegt, für dieses mesopotamische Projekt die figürlichen Reliefs assyrischer und babylonischer Paläste, Tempel und Obelisken studiert und deren umrissstarke Frontal- und Profil-Ansichten schreitender Götter, Helden und Tiere zur Grundlage seines die Figuren scharf umreißenden, das Geschehen reliefartig nach vorne holenden Darstellungsstils gemacht. Um aber in den Bildtexten ein Äquivalent für diese Form der Stilisierung zu finden, hat er auf ältere Übersetzungen des Epos zurückgegriffen. Deren dithyrambischer Tonfall rückt das ohnehin schon exotisch fremde Geschehen noch weiter in eine archaisch mythische Ferne, was den Zugang nicht erleichtert.

Als Bewunderer von Harders bildschöpferischer Fantasie wird man in "Gilgamesch" vor allem darüber staunen, wie die Ungeheuerlichkeiten, die dem Titelhelden begegnen, im formal strengen Zeichenstil zum bildhaften Ereignis werden. Wenn Gilgamesch, der kraftstrotzende Herrscher, der alle Gegner niedergerungen hat, erstmals mit dem ihm ebenbürtigen Tiermenschen Enkidu kämpft, sprengen die beiden Kraftpakete fast den Rahmen des Panels, ja hinter ihnen zerbersten gar die Tore des Palasts. Wenn Gilgamesch und Enkidu aber den grauenhaft grinsenden Riesen Chumbawa besiegen und zerstückeln, schrumpfen sie auf Zwergengröße zusammen, und zu Füßen der den Himmel berührenden großen Zeder Libanons wirken sie so winzig wie Ameisen, die sich am Boden aufrichten. Lässt Harder aber die Skorpionmenschen mit ihren Knochengesichtern, ihren hummerartigen Greifarmen und Stechschwänzen über Gilgamesch aufgehen, begreift man, was ihn als Zeichner an diesem Stoff fasziniert hat. In keinem Medium können die Ungeheuer, die Gilgamesch auf seinem Läuterungsweg besiegen muss, eine ähnliche Kraft entfalten wie im Comic.

Jens Harder: Gilgamesch. Carlsen Verlag, Hamburg 2017. 144 Seiten, 24,99 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: