Comic:Klar wie Polarluft

Hervé Tanquerelles "Grönland Vertigo" zitiert die legendäre "Tim und Struppi"-Reihe. Die "Ligne claire" steht hier aber für eine dunkle Gefahr.

Von Gerhard Matzig

Comic: Hervé Tanquerelle (Text & Zeichnung): Grönland Vertigo. Aus dem Französischen von Annika Wisniewski. Avant-Verlag, Berlin 2017. 104 Seiten, 24,95 Euro.

Hervé Tanquerelle (Text & Zeichnung): Grönland Vertigo. Aus dem Französischen von Annika Wisniewski. Avant-Verlag, Berlin 2017. 104 Seiten, 24,95 Euro.

Das Cover des Comics "Grönland Vertigo" von Hervé Tanquerelle macht kein Geheimnis aus seinem Dasein als Hommage. Zum einen zitiert der französische Comiczeichner Tanquerelle die legendäre "Tim und Struppi"-Reihe des Belgiers Georges Prosper Remi, dessen bekannteres Pseudonym Hergé fast passgenau dem Vornamen Tanquerelles entspricht, also Hervé. Er tut dies auf fast schon nachahmend simple Weise. Die Grönland-Hauptfigur heißt wie? Georges. Und ist was? Ein Comiczeichner.

Außerdem zeigt etwa der Band "Tim in Tibet" Tim, Haddock und einen Bergführer mit geschulterten Rucksäcken unterwegs in eisiger Berglandschaft. Der Himmel ist blau, die Berge sind weiß. So ist es auch mit "Grönland Vertigo", dessen Protagonisten sich im verblüffend ähnlichen Gestus durch die grönländische Landschaft bewegen - den Rucksack geschultert, den Karabiner im Anschlag. Der Himmel ist blau, die Eisberge sind weiß. Die Linie der Zeichnung aber ist so klar wie die Luft über Grönland. Tanquerelle ehrt die "Ligne claire" seines Vorbildes Hergé, also die klare Linie, den präzisen Duktus der Zeichnung und die flächige Kolorierung. Nimmt man allein die Steinbrocken auf den Covern von "Grönland Vertigo" und "Tim in Tibet": Man könnte beinahe an ein Imitat denken. An eine Kopie. An den Comic als serielle Fälschung.

Genau an diesem Punkt wird der zweite Aspekt der Hommage bedeutsam. Tanquerelle zitiert ja im Titel auch den legendären Hitchcock-Klassiker "Vertigo". Das ist ein medizinischer Begriff, der sich auf ein Empfinden des Drehens und Schwankens bezieht. Auf ein Gefühl, sich nicht sicher sein zu können. Was die Koordinaten des Raumes betrifft - aber auch die Codes des Lebens. So gesehen stünde die zitierte klare Linie eben nicht für Klarheit, sondern für eine unklare, ahnungsvolle, raunende Gefahr. Darin aber zeigt sich die geniale Doppelbödigkeit von Tanquerelles Hommage. Er sorgt für Schwindel und Tiefe dort, wo beim Original, bei Tim und Struppi, dann doch letztlich immer alles in bester und zugleich auch etwas argloser Ordnung ist. "Grönland Vertigo" mag eine Hommage sein - es ist aber auch ein Comic der Subversion. Ein Original aus eigener Kraft und Raffinesse.

Dabei nimmt sich der eher geahnte als tatsächliche Grönland-Krimi, der wie "Vertigo" seinen Suspense dem Reich der Gedanken, nicht der Taten, entleiht, sagenhaft viel Zeit, um in nahezu epischen Einstellungen den Leser allmählich ins Reich des Schwindels und des Schwankens zu führen.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Comic stellt der Verlag auf seiner Internetseite zur Verfügung.

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