Comic: Jean-Marc Reiser:Schweinepriester unter Frauen

Obszönität und Engagement: Zeichner Jean-Marc Reiser war in Frankreich ein Star. Die Frankfurter Ausstellung "Vive Reiser" zeigt, warum man sich in Deutschland mit dem Künstler schwertat. Die Bilder.

C. Haas

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Jean-Marc Reiser, Ausstellung "Vive Reiser"

Quelle: Zeichnung: Jean-Marc Reiser

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Obszönität und Engagement: Zeichner Jean-Marc Reiser war in Frankreich ein Star. Die Frankfurter Ausstellung "Vive Reiser" zeigt, warum man sich in Deutschland mit dem Künstler schwertat. Die Bilder.

Zwei Frauen halten an einer Tankstelle. Eine der beiden hat große Brüste, auf die der kugelrunde, in einen knallgelben Overall gekleidete Tankwart gierig starrt. Das bringt die andere Frau auf die Idee, dem Mann einen Vorschlag zu machen: Wenn er bereit ist, mit seiner Zunge die von Fliegendreck völlig verschmierte Windschutzscheibe ihres Autos sauberzulecken, dann darf er sich nachher auch mit ihnen vergnügen.

Der Dicke macht sich aufgegeilt an die Arbeit, aber kaum ist er fertig, brausen die Frauen mit Vollgas davon. "Wir sind echt gemein. Wir sind wirklich Schlampen! Richtige Schlampen!", kreischt die Fahrerin fröhlich-entsetzt, während - "Platch! Platch!" - bereits weitere Insekten auf der Scheibe zerplatzen.

Text: Christoph Haas/SZ vom 25.2.2011/sueddeutsche.de/tolu/rus

Jean-Marc Reiser, Ausstellung "Vive Reiser"

Quelle: Zeichnung: Jean-Marc Reiser

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Der gelbe Brummer heißt diese Geschichte, die den Band Unter Frauen eröffnet. Und, ja, wer so etwas komisch findet, der muss über eine nicht zu niedrige Ekelschwelle verfügen und zudem Sinn für etwas gröbere Unterleibsscherze haben - zwei Voraussetzungen, die für die Lektüre von Jean-Marc Reisers Werk insgesamt gelten.

Zum 70. Geburtstag des Zeichners am 13. April werden nach längerer Pause 16 seiner Alben vom Kein & Aber Verlag wiederveröffentlicht; neben Unter Frauen liegen drei davon bereits vor. In Der Schweinepriester spielt ein Kette rauchender Proll seiner Umwelt böse Streiche. Tierleben hätte den alten Brehm erröten lassen, während Großartige Zeiten! auch von der politisch-zeitkritischen Verve Reisers zeugt.

Jean-Marc Reiser, Ausstellung "Vive Reiser"

Quelle: Arnaud Baumann

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In seiner Heimat hat diese Mischung aus Obszönität und Engagement den Künstler zu einem kultisch verehrten Star gemacht. Der junge Reiser war in Paris zunächst in einem Geschäft für Zeichenbedarf, dann bei einem Weinhändler tätig. In dessen Firmenzeitschrift erschienen seine ersten Arbeiten.

Dann wurde er entdeckt und publizierte fortan in den großen französischen Satire- und Comic-Magazinen der Sechziger und Siebziger, von Hara-Kiri über Charlie Hebdo bis zu Pilote. Auf dem Höhepunkt seines Ruhms, an der Wende zu den Achtzigern, wurde er Kolumnist für Le Monde und den Nouvel Observateur. Im Frühjahr 1983 erkrankte Reiser an Knochenkrebs. Er zeichnete weiter und starb innerhalb von sechs Monaten.

Jean-Marc Reiser, Ausstellung "Vive Reiser"

Quelle: Zeichnung: Jean-Marc Reiser

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In Deutschland tat man sich mit dem Zeichner dagegen schwer. In der Ausstellung Vive Reiser!, die das Frankfurter Caricatura Museum zeigt, dokumentieren Tafeln eine zögerliche, von Hemmungen aller Art geprägte Rezeption. Im Jahr 1982 brachte die Edition Olms erstmals zwei Alben Reisers auf Deutsch heraus. Verärgert über die Eingriffe, die der Verlag sich leistete, zog der Künstler die Lizenz zurück. Weder Eichborn, Rowohlt und 2001 noch Hanser, Diogenes und Krüger zeigten sich danach interessiert.

Aus den Absagebriefen spricht Unverständnis, aber auch die Angst vor dem Staatsanwalt. Ganz unbegründet war diese nicht: Nachdem der Semmel Verlach, gestärkt durch den Erfolg von Werner, mit Reisers Werken einen überraschenden Bestsellererfolg einfahren konnte, begann auch die Titanic ihn abzudrucken und bekam prompt erhebliche juristische Probleme. Als die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften die Adresse Reisers erbat, gab die Redaktion keck dessen Grabstelle auf dem Pariser Montparnasse Friedhof an.

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Quelle: Zeichnung: Jean-Marc Reiser

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Mit fast 250 Originalen ist die Frankfurter Ausstellung nicht nur opulent bestückt, sie verändert auch ein Stück weit das Reiser-Bild vom derben Provokateur, der seine Arbeiten spontan aufs Papier fetzte. Gleich am Anfang hängen vier zauberhafte, zart kolorierte Zeichnungen, die er für seinen kleinen Sohn Frantz anfertigte; aus Reiser hätte auch ein begnadeter Kinderbuch-Illustrator werden können.

Mehrere Beispiele zeigen sein lebhaftes Interesse an ökologischen Fragen - vor knapp 40 Jahren, im auf seine Kernkraftwerke stolzen Frankreich! Wenn er ausrechnet, wie viel Kraftstoff für einen Treibhaussalat drauf geht, ist er von einer Aktualität, die größer nicht sein könnte.

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Quelle: Zeichnung: Jean-Marc Reiser

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Zeichnerisch ging Reiser zudem kontrollierter zur Sache, als sein expressiver Stil vermuten lässt. Für die Cover seiner Alben fertigte er mehrere Entwürfe an, und der Vergleich von Vorzeichnungen und fertigen Blättern macht deutlich, wie genau er über kompositorische Aspekte nachdachte.

Je länger man in der Ausstellung verweilt, desto größer wird aber auch das Rätsel Reiser. Warum ist die Unermüdlichkeit, mit der er unter die Gürtellinie zielt, nie peinlich, warum sein Zynismus nie abstoßend? Einerseits liegt dies wohl an der Virtuosität, mit der hier die Prinzipien der komischen Zeichnung auf die Spitze getrieben werden.

Jean-Marc Reiser, Ausstellung "Vive Reiser"

Quelle: Zeichnung: Jean-Marc Reiser

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Seinen Männern pflanzt Reiser keine Knollen-, sondern riesige, mit einer fetten Tuschekontur versehene Gurkennasen ins Gesicht. Bei den Frauen sind es bloß Gürkchen, dafür haben ihre medusenhaft sich ringelnden Haare die Tendenz, in Momenten der Erregung steil zu Berge zu stehen.

Am wichtigsten ist bei Reisers Figuren aber der beim Reden, Lachen, Schreien übermäßig weit aufgerissene Mund - so werden aus Menschen burleske Monster. Das Hässliche ist für Reiser der Schatten des Schönen, dessen künstlerischer Repräsentation er sich verweigert.

Jean-Marc Reiser, Ausstellung "Vive Reiser"

Quelle: Zeichnung: Jean-Marc Reiser

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Andererseits ist in Reisers Zeichnungen etwas eingefangen, das über den Willen, Lacher auszulösen, hinausgeht - etwas schwer Fassbares, eine Zeitstimmung. Insofern wirkt dieser Künstler wie ein ferner, frecher Nachfahre von Constantin Guys, in dessen Bildern aus dem Paris um 1850 Baudelaire "das Vorübergehende, das Flüchtige, das Zufällige", das die moderne Welt prägt, exemplarisch eingefangen sah.

Jean-Marc Reiser, Ausstellung "Vive Reiser"

Quelle: SZ

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In Reisers fluchenden und kopulierenden, in seinen verstümmelten und verstümmelnden Figuren schlägt sich etwas von der zugleich produktiven und nervösen Unruhe nieder, von der Mischung aus Lust und Panik, die in den Sechzigern in die Welt gekommen und seitdem nicht mehr aus ihr verschwunden ist. Daher ist Reiser etwas Rares, ein Glücksfall: Er ist ein Klassiker und ein Heutiger.

JEAN-MARC REISER: Unter Frauen, Der Schweinepriester, Tierleben, Großartige Zeiten! Aus dem Französischen von Bernd Fritz. Kein & Aber Verlag, Zürich, Berlin 2011. 72 oder 80 S., 14,90 Euro.

"Vive Reiser!", bis 26.6. im Caricatura Museum Frankfurt,

Info: 069-21230161

© SZ vom 25.02.2011
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