Die besten Comics für das Frühjahr:Am Leben bleiben

Lesezeit: 4 Min.

Die Comics des Frühjahrs. (Foto: Bearbeitung: SZ)

Die Comics, die wir empfehlen, erzählen von Leselust und Schreibqual, der Welt nach der Zombie-Apokalypse und dem Überleben in einer Favela von Rio de Janeiro.

Von Fritz Göttler, Martina Knoben, Alex Rühle und Sonja Zekri

Marcello Quintanilha: Hör nur, schöne Márcia

Eine Welt in Blaustich, in verblassten, fahlen Farben, selbst die Gesichter haben nie etwas von gesunder Rosigkeit. Die Frauen sind Fleischberge, aufdringlich gekleidet und geschminkt, die Gesichter verzerrt. So malt Marcello Quintanilha das Leben in einer Favela in Rio de Janeiro. Márcia arbeitet als Krankenschwester, engagiert, und Aluísio, der Mann an ihrer Seite, arbeitet auf Baustellen. Es gibt sehr viel Verständnis und Liebe zwischen ihnen. Und es gibt eine Menge Zoff mit der Tochter Jacqueline, die sich mit einem fiesen Typen aus einer der Drogenbanden eingelassen hat - das eskaliert und die drei geraten zwischen die Verbrecher und Polizisten, die selbst die kriminellen Geschäfte kontrollieren, brutal und blutig. Der ruhige Grundton in all dem Chaos ist ein kleines Lied, "Escuta, formosa Márcia", hör nur, schöne Márcia, aus den von Mario de Andrade gesammelten Modinhas imperiais, das Márcia auf einer CD bei einer alten Dona findet, für die sie die Pflege übernommen hat. Es geht ihr nicht mehr aus dem Kopf und zaubert, wenn sie es auf der Rückfahrt im Bus hört, glückliche Entspanntheit ins Gesicht. Fritz Göttler

Marcello Quintanilha: Hör nur, schöne Márcia. Graphic Novel. Aus dem Portugiesischen von Lea Hübner. Lettering von Inga Härig. Reprodukt, Berlin 2023. 128 Seiten, 24 Euro. (Foto: Reprodukt)

Tillie Walden: Clementine

Alle Jugendlichen träumen vom Neustart. Tillie Walden, die mit queeren Coming-of-Age-Comics bekannt (und schon zweimal mit einem Eisner-Award ausgezeichnet) wurde, lässt eine junge Frau durch eine postapokalyptische Welt humpeln, in der kaum mehr Zivilisation existiert - das ist furchtbar, aber auch eine Chance. Fans kennen Clementine aus dem "Walking Dead"-Universum, im Computerspiel, das nach der erfolgreichen Zombie-Comicserie entstand, war sie eine der Hauptfiguren. Clementine hat ein Bein verloren, aber ist immer noch ein badass - die ersten Beißer erledigt sie schon auf den ersten Seiten. Um die hirnlosen Untoten aber geht es eigentlich kaum, sie sind nur der Hintergrund, vor dem Clementine und einige andere Jugendliche das Erwachsensein und Zusammenleben proben. Das geht fürchterlich schief. Waldens Figuren sind toll - an Clementines Seite ein wunderbar abgehobener Amish-Junge und eine junge Frau mit dicker Brille - auch sie ein badass mit Seele. Gezeichnet ist das düster, schwarz-weiß - aber mit zartem Strich. Erwachsenwerden in einer Welt voller Untoter. Martina Knoben

Die vollständige Rezension lesen sie hier.

Tillie Walden: Clementine. Comic. Aus dem Englischen von Frank Neubauer. Cross Cult Verlag, Ludwigsburg 2023. 256 Seiten, 26 Euro. (Foto: Cross Cult)

Victoria Lomasko: Die letzte sowjetische Künstlerin

Angesichts der schrecklichen Gegenwart liegt die Versuchung nahe, den postsowjetischen Raum vor Russlands Krieg gegen die Ukraine als irgendwie harmonischer zu betrachten. Gab es nicht Gemeinsamkeiten? Fortschritt? Zukunft? Nach der Lektüre von Victoria Lomaskos Comic-Reportage "Die letzte sowjetische Künstlerin" muss man sagen: Die Harmonie zumindest hielt sich eher in Grenzen. Lomasko, eine der bekanntesten Comic-Zeichnerinnen Russlands, war 2014 ausgezogen, um die Jubelerzählung von der sowjetischen Völkerfreundschaft am lebenden Objekt zu prüfen. Was sie fand, waren Erinnerungen an die stalinistischen Deportationen in der russischen Kaukasusrepublik Inguschetien, und in Tiflis eine Aserbaidschanerin, die mit 32 Großmutter wurde. Im belarussischen Minsk gerät sie in die Proteste gegen Lukaschenko, zurück in Russland wird Nawalny verhaftet. Am Ende des Buches ist sie das Politische leid und zeichnet nur noch Blumen. Heute weiß man: Das Politische hat diese Zurückhaltung nicht honoriert, sondern wurde militant. Auch wenn der Krieg in ihren Reportagen nicht auftaucht, lohnen sie sehr: Das postsowjetische Erbe ist, wie Lomasko zeigt, ausgesprochen unruhig. Sonja Zekri

Victoria Lomasko: Die letzte sowjetische Künstlerin. Übersetzt von Sandra Frimmel. Verlag Diophanes, Zürich 2023. 288 Seiten. 30 Euro. (Foto: Diaphanes)

Tom Gauld: Die Rache der Bücher

Der Schotte Tom Gauld zeichnet seit 2005 allwöchentlich einen Cartoon für den Guardian, immer rund um das Thema der Literatur. Autoren und ihre Schreibkrisen, Lektorengespräche, Literaturklassiker und ihre Verfilmungen, Genreparodien, Bibliothekare im ewigen Kampf um die richtige Ordnung - Gauld schafft es seit 17 Jahren, die Welt der Literatur derart lustig zu verfremden, dass nun glücklicherweise schon der zweite Sammelband mit seinen genial lustigen Bücher-Cartoons erschienen ist. Da gibt es - holzschnittartig illustriert - etwa solche Denksportaufgaben: "Anna schreibt alle 6 Monate einen neuen Roman. ¾ ihrer Romane sind Bestseller und 2/3 gewinnen Literaturpreise. - Wie sehr hasst du Anna?" Lässt sich der Literaturbetrieb besser karikieren? Alex Rühle

Die vollständige Rezension lesen sie hier.

Tom Gauld: Die Rache der Bücher. Comic. Aus dem Englischen von Christoph Schuler. Edition Moderne, Zürich 2023. 160 Seiten, 22 Euro. (Foto: Edition Moderne)

Joris Mertens: Das große Los

Zeichnerisch ist das Buch die Entdeckung dieses Frühjahrs. Grau ist die sintflutartig verregnete Stadt, die Joris Mertens mit Kohlestrichen dramatisch skizziert. Neongelb und rot glüht es darin, die Stimmung ist sehr, sehr düster - neo-noir eben. François, der nicht mehr jung ist, dessen gefurchtes Gesicht von viel Lebensfrust erzählt, arbeitet als Fahrer für eine Wäscherei, wird schlecht bezahlt, und eine Gehaltserhöhung ist nicht vorgesehen. Will man ihn, den schon Älteren, vielleicht sogar ausmustern? François lebt allein und verbringt die Abende in seiner Stammkneipe. Seit Ewigkeiten spielt er Lotto und setzt immer auf dieselben Zahlen. Das "große Los" scheint er gezogen zu haben, als er bei einer Lieferung in einer Villa nicht nur sehr viele Leichen vorfindet, sondern auch eine Tasche voller Geld. Wird jetzt endlich alles gut? "Fortuna" ist das letzte Kapitel dieses Krimis überschrieben, und das dämonische Leuchten in den Bildern dieses grafisch virtuosen Comics verspricht dem Allerweltsloser François nichts Gutes. Martina Knoben

Joris Mertens (Text und Zeichnungen): Das große Los. Aus dem Französischen von Axel Rothkamm. Splitter Verag, Bielefeld 2023. 144 Seiten, 35 Euro. (Foto: Splitter)

Camille Jourdy: Juliette

Die Liebe im Glashaus ist intensiv und kribbelig pervers, ein bisschen, denn die Frau ist verheiratet und der Mann hat einen Maskenverleih. Camille Jourdy erzählt vom Leben (und vom Lieben) in einer kleinen französischen Stadt, mit einer überwältigenden Fülle sinnlicher Details, von den Jungen und den Alten, von Exaltation und Müdigkeit, Menstruation und Demenz, Annäherung und Entfremdung. Eine junge Frau, Juliette, kehrt zurück in die Heimatstadt, macht sich auf den Weg zu dem Haus, in dem sie als Kind lebte - eine Einbahnstraße, eine Sackgasse. Sie begegnet einem Mann, der eine ähnliche Einsamkeit kennt wie sie, der erst mal anfangen muss, sein Leben aufzuräumen. Am Ende gibt es eine gespenstische Slapstick-Kavalkade um den nackten Liebhaber, in der alle Sicherheiten sich auflösen. Fritz Göttler

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Camille Jourdy: Juliette. Gespenster kehren im Frühling zurück. Graphic Novel. Aus dem Französischen von Lilian Pithan. Handlettering Michael Hau. Reprodukt, Berlin 2023. 237 Seiten, 29 Euro. (Foto: Reprodukt)

Timothé Le Boucher: Jene Tage, die verschwinden

Eine Jekyll-and Hyde-Geschichte. Anfangs jeden zweiten Tag, schließlich immer häufiger übernimmt ein Fremder den Körper von Lubin Maréchal, einem fröhlichen jungen Mann, der als Akrobat arbeitet und in einem Supermarkt jobbt. Den Geldjob verliert Lubin schnell, als er nicht mehr jeden Tag zur Arbeit kommt; und er bekommt ein ernstes Problem auch mit seiner Freundin, als er eines Tages neben einer unbekannten sexy Rothaarigen aufwacht... Die Story ist komisch und wirklich Angst erregend, der Körperklau ein klassisches Horrormotiv. So ganz klar ist aber nicht, was in Timothé Le Bouchers Comic eigentlich passiert: Ist Lubin psychisch krank? Welche Rolle spielt ein diabolisch blickender Hypnotiseur? Oder wird der sportlich durchtrainierte, naive und schlampige Junge womöglich einfach erwachsen? Coming-of-age als Albtraum. Martina Knoben

Timothé Le Boucher: Jene Tage, die verschwinden. Comic. Aus dem Französischen von Christiane Sixtus. Cross Cult, Ludwigsburg 2023. 192 Seiten, 35 Euro. (Foto: Cross Cult)
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