Comic:Das Fenster als Guillotine

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Zwei Klassiker der belgischen Comic-Szene sind endlich wieder da: André Franquins "Schwarze Gedanken" und alle Abenteuer von Yves Chalands "Freddy Lombard".

Von Christoph Haas

Beatles oder Rolling Stones? Das war für viele Pop-Fans eine Grundsatzfrage. Ähnlich hieß es für belgische und französische Comic-Leser in den Fünfzigern und Sechzigern: "École de Bruxelles" oder "École de Marcinelle"? In Brüssel war der Lombard Verlag zu Hause, dessen Magazin Tintin - so auch der Originaltitel von "Tim und Struppi" - stark von Hergé und seiner puristischen Auslegung der Ligne Claire geprägt war. In Marcinelle, einem Vorort von Charleroi, residierte Dupuis mit dem Magazin Spirou. Die Zeichner dort bevorzugten zwar auch überwiegend Semifunnys, pflegten jedoch einen weicheren, dynamischeren Stil.

Der unbestrittene Star von Spirou war André Franquin, der die gleichnamige Serie als 22-Jähriger 1946 übernommen und um unvergessliche Nebenfiguren wie das Marsupilami und den Grafen von Rummelsdorf bereichert hatte. Von 1957 an zeichnete er auch die One-Pager um den chaotischen Büroboten Gaston - eine Überbelastung, die dazu führte, dass er seine Produktion schließlich stark zurückfahren musste. Im Jahr 1977 aber begann Franquin für eine Art Underground-Beilage von Spirou die bitterböse Gag-Serie "Schwarze Gedanken", mit der er sich von seinem Status als liebenswürdiger Unterhalter eines minderjährigen Publikums emanzipierte. Der Carlsen Verlag bringt nun die komplette Serie und in einem weiteren Band ausgewählte Episoden und Hintergrundmaterial neu heraus.

Ein völliger Bruch waren die "Schwarzen Gedanken" in Franquins Werk nicht. Schon in "Gaston" klingen die humanistischen, antimilitaristischen und ökologischen Überzeugungen an, aus denen Franquin nun keinen Hehl mehr macht. Allerdings ist er kein Prediger. Ihn kennzeichnet vielmehr ein gallefarbener, verzweifelt zynischer Humor: Da wird ein fanatischer Befürworter der Todesstrafe von einem herabsausenden Fenster guillotiniert oder landet ein Ingenieur der Lebensmittelindustrie selbst als Frikassee in der Dose. Wenn Figuren mehrfach ins Nichts stürzen, von schweren Massen zerquetscht werden oder auf eine tiefe Schwärze zulaufen, lassen sich die Depressionen erahnen, mit denen Franquin damals zu kämpfen hatte.

Freddie agiert nicht zielstrebig wie Tim, er stolpert eher planlos durch die Ereignisse

Als Zeichner erfindet sich Franquin in diesen Schwarz-Weiß-Bildern noch einmal neu. In den frühen Gags setzt er nur flache Schattenrisse vor einen weißen Hintergrund. Später verleiht er den Figuren eine befremdliche, stoffartig-pelzige Plastizität, die sie wie zum Leben erwachte Puppen wirken lässt. Das Komische und das Unheimliche sind bei Franquin kein Gegensatz, auch nicht bei den Monstern, die er mit sichtlichem Vergnügen zu Papier bringt, seien es Möwen mit Killerinstinkt, fantastische Albtraumwesen oder ein Vampirpaar, das erschöpften Tour de France-Radlern auflauert - und hofft, dass diese nicht zu viel eklige Dopingmittel im Blut haben.

Zeitgleich zur Publikation von "Schwarze Gedanken" setzte in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern eine Neubewertung der klassischen belgischen Comics ein. Angesichts der Welle von ambitionierten Erwachsenencomics seit 1968 hatten die Werke von Hergé, E. P. Jacobs ("Blake & Mortimer"), Franquin und Maurice Tillieux ("Jeff Jordan") eine Zeit lang als spießig und altmodisch gegolten. Einer jungen Generation von französischen Zeichnern erschienen sie aber wieder als mustergültig und Inbegriff grafischer Hipness. Zu den begabtesten Vertretern dieser "Nouvelle Ligne Claire" zählte, neben Serge Clerc, Floc'h und Ted Benoît, der 1957 geborene Yves Chaland. Nach einigen kürzeren Arbeiten startete er 1981 die Serie "Freddy Lombard", von der bis 1989 drei mittel- und drei albenlange Geschichten erschienen. Carlsen bringt nun eine Gesamtausgabe heraus.

Die Schauplätze von "Freddy Lombard" sind, wie es sich für Abenteuerserien gehört, recht unterschiedlich. "Das Testament des Gottfried von Bouillon" spielt in der belgischen, "Der Komet von Karthago" in der südfranzösischen Provinz. Die Geschehnisse in den zwei Teilen von "Der Elefantenfriedhof" finden im winterlichen Paris und im kolonialen Afrika statt. Während "Ferien in Budapest" bricht der Ungarnaufstand des Jahres 1956 aus, und der Handlungsraum von "F-52" beschränkt sich fast ausschließlich auf ein atomgetriebenes, futuristisches Passagierflugzeug, das auf seiner Jungfernreise von Le Bourget nach Melbourne unterwegs ist.

Chaland verwebt in "Freddy Lombard" drei unterschiedliche ästhetische Ansätze miteinander. Am offensichtlichsten ist die Hommage. Freddy hat die Tolle und den Trenchcoat von Hergés Tim, sein Kumpel Sweep erinnert physiognomisch stark an den Reporter Fantasio aus Spirou, und die schicke Dina flitzt auf einem Motorroller daher wie Steffi, die gewitzte Assistentin von Jeff Jordan. Zugleich ironisiert Chaland aber seine Vorbilder. Freddy ist kein pfadfindermäßiger Held wie Tim, er agiert nicht zielstrebig, sondern stolpert eher planlos durch seine Erlebnisse. Diese latente Schwäche der Hauptfigur erlaubt ein modernes Erzählen, das sich nicht mehr völlig den ehernen Gesetzen der Spannungsdramaturgie fügen muss - am überzeugendsten ist dies in "Der Komet von Karthago", wo ein halbes Dutzend Handlungsstränge parallel laufen, ohne dass am Ende alle aufgeworfenen Fragen geklärt sind.

Chalands Zeichenstil verändert sich im Laufe von "Freddy Lombard" deutlich. Für "Das Testament des Gottfried von Bouillon", sein Debüt, orientiert er sich an Peyos Ritterserie "Johann und Pfiffikus". Aber auch der frühe Tillieux ist ein wichtiger Einfluss, speziell in den wunderbaren, regenverhangenen Film-noir-Stimmungen auf den ersten Seiten. Ab "Der Elefantenfriedhof", dem zweiten Band, zeichnet Chaland realistischer, kantiger, klarer. Er erprobt verschiedene Spielarten der Ligne claire, lässt sich von dem amerikanischen Zeichner Milton Caniff ("Terry and the Pirates", "Steve Canyon") inspirieren und bringt das beträchtliche Kunststück fertig, bei aller Fixierung auf seine Vorbilder vor allem einer zu sein: er selbst.

Anders als Franquin, der immerhin 73 wurde, war Chaland nur ein kurzes Leben beschieden. Er starb 33-jährig bei einem Autounfall. Seine Comics waren vom deutschen Buchmarkt lange verschwunden. Schön wäre es, wenn sich dies im Anschluss an die "Freddy Lombard"-Gesamtausgabe ändern würde. Das amüsante, parodistische Frühwerk "Captivant" ist nie übersetzt worden, und zumindest der bissige Strip "Klein Albert" verdient es unbedingt, wiederentdeckt zu werden.

André Franquin (Text und Zeichnungen): Schwarze Gedanken. Die reguläre Ausgabe (Carlsen Verlag, Hamburg 2017, 72 Seiten, 14,99 Euro) enthält die komplette Serie; die Sonderausgabe "Es waren einmal Schwarze Gedanken" (Carlsen Verlag, Hamburg 2018, 120 Seiten, 24,99 Euro) bietet eine Auswahl sowie diverses Zusatzmaterial. Yves Chaland (Text und Zeichnungen): Freddy Lombard Gesamtausgabe. Mitarbeit beim Text: Yann Le Pennetier. Aus dem Französischen von Marcel Le Comte. Carlsen Verlag, Hamburg 2017. 240 Seiten, 29,99 Euro.

© SZ vom 06.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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