Süddeutsche Zeitung

Clip-Kritik:Die Unberührbare

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Graffiti auf Häuserwände sprühen, das kann doch jeder. Viel origineller sind die Sprayer im Internetvideo der Woche: Sie verschönern George W. Bushs Dienstflugzeug Air Force One - illegal.

Christian Kortmann

Eines der besten Beispiele für die selektive Wahrnehmung sind die so genannten Tags: Graffiti-Künstler und -Stümper hinterlassen ihre kalligrafisch verzierten Künstlernamen und Mottos auf dem Beton der Städte. Dieses meist schwarze Gekruschel ist in Großstädten omnipräsent, so dass man kaum mehr darauf achtet: Aber wenn doch, dann sieht man die Tags plötzlich überall: Ihre Bedeutung verstehen die wenigsten, denn Tags folgen den elaborierten Codes der Graffiti-Szene. Wie von Zauberhand tauchen sie auf, nur selten sieht man einen Sprüher in Aktion: Tags werden von Heinzelmännchen mit Spraydose und dickem Filzstift gemacht.

In den Städten bestehen die natürlichen Feinde dieser Heinzelmännchen in Hausbesitzern, Hausmeistern und Polizeistreifen. Angesichts der großen Auswahl an Häuserfassaden und S-Bahn-Waggons bilden die Bewahrer der unbefleckten Oberflächen jedoch eine chancenlose Minderheit.

Als Tagger mit Ambitionen sucht man sich da doch lieber eine größere Herausforderung. Wie wäre es zum Beispiel mit dem am besten bewachten Verkehrsmittel der Welt? Gemeint ist die Air Force One, das Dienstflugzeug des US-Präsidenten - na gut, wenn's weiter nichts ist.

Fetisch der Allmacht

Der Clip "Tagging Air Force One" ist genau verortet: Auf dem Autobahnschild liest man "Andrews AFB", Andrews Air Force Base, der Heimatflughafen der Air Force One nahe Washington DC. Schon von weitem erblickt man das Flugzeug: Der Abstand zum Betrachter, das Dämmerlicht der Distanz, verdeutlicht seine Unberührbarkeit.

Wie ein Fetisch der Allmacht wird die Air Force One visuell gefeiert, die Kamera fährt den "United States of America"-Schriftzug entlang, hell und bestbeleuchtet hebt sich dieser Status-Jet vor dem nachtschwarzen Vordergrund ab.

Der Film exerziert die Ikonografie des Heimlichen und Verbotenen durch. Dunkle, gehetzte Wackelbilder zeigen, wie zwei Gestalten, mit obligatorischem Kapuzenpullover, die Sicherheitsvorkehrungen überwinden: Sie schleichen an den Bewachern und Hunden vorbei und klettern über den hohen Zaun. Man hört ihre adrenalingepeitschten Atemgeräusche.

Dann sprüht einer von beiden "Still Free" auf ein Triebwerk der Air Force One, und es wird klar, dass sie ihren Hausfriedensbruch als demonstrativen Akt der Freiheit begreifen.

Diese politische Botschaft wird durch die klandestine Ästhetik verstärkt, die die Kluft zwischen Regierendem und Regierten visualisiert: Die Air Force One ist eines der wichtigsten Machtinsignien des US-Präsidenten. Es verdeutlicht nicht nur die symbolische, sondern auch die physische globale Präsenz des Staatoberhauptes der Supermacht, die innerhalb weniger Stunden überall auf der Welt eine militärische Aktion durchführen kann. Die Air Force One ist eine fliegende Festung, hoch bewaffnet, mit Raketenablenksystemen ausgestattet und in der Luft betankbar. In Notsituationen kann der Präsident tagelang über den Wolken regieren.

George W.s stärkstes Zeichen

Am Filmende sieht man die Air Force One noch einmal in feierlichem Licht, nun prangt das Tag "Still Free" auf ihrem Triebwerk: Überschreibt man eines der stärksten Zeichen des US-Präsidenten, wirkt das beinahe so schockierend wie eine körperliche Attacke.

Im Netz findet sich ein weiterer Clip, in dem der Sprayer und Modedesigner Marc Ecko erklärt, dass er es ist, der in "Tagging Air Force One" zur Tat schreitet. Ecko preist die traditionelle Freiheit, die Möglichkeiten und die Abenteuerlust Amerikas. Er sagt, er wolle George W. Bush an seine Aufgabe erinnern, nicht nur wie ein Rockstar durch die Welt zu fliegen, sondern auch den Gedanken an die Freiheit hinaus zu tragen: "Let's celebrate the fact that we are still free"

Man ahnt es schon - der Film "Tagging Air Force One" ist ein Fake: Die Boeing 747 war gemietet und wurde für die Dreharbeiten umlackiert. Ach, wie enttäuschend, könnte man nun meinen, bloß eine Guerilla-Marketing-Aktion für Marc Eckos Modemarken!

Doch weit gefehlt: Weil dieser gefälschte Film die Regeln der Internetvideos genau befolgt und sie auf die Spitze treibt, weist er über seine Werbebotschaft hinaus.

Die Kraft der ungewöhnlichen Bilder wirkt auch als Inszenierung: Bei der Begegnung von Sprayer und Air Force One treffen solch unterschiedliche Sphären aufeinander, dass man sich an das altbekannte Rendezvous von Regenschirm und Nähmaschine auf dem Seziertisch erinnert fühlt.

"Das Leben der Anderen" live auf der Bühne: Christian Kortmann stellt die besten Internetvideos aus seiner wöchentlichen sueddeutsche.de-Kolumne "Das Leben der Anderen" vor und diskutiert mit Matthias Günther über aktuelle Netzphänomene. Am Samstag, dem 6. Januar 2007, um 22.00 Uhr im Neuen Haus der Münchner Kammerspiele.

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