Neues Buch von Clemens J. Setz:"mudel tudel vedel"

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Clemens J. Setz ist 1982 in Graz geboren. 2020 erschien bei Suhrkamp sein Buch "Die Bienen und das Unsichtbare" über Plan- und Geheimsprachen. (Foto: Rathaus Berlin/imago/gezett)

In "Die Bienen und das Unsichtbare" erkundet der Schriftsteller Clemens J. Setz Plansprachen wie Esperanto oder Blissymbolics, erzählt von der Lebensnot ihrer Erfinder und seiner persönlichen Geschichte.

Von Lothar Müller

Großer Vorkehrungen bedarf es nicht, um in Parallelwelten zu gelangen. An der Rückseite eines Wandschranks öffnet sich eine Tür, und schon ist der Weg nach Narnia frei. Ein Mädchen fällt in ein Kaninchenloch, rasch ist es im Wunderland. Die Abenteuer warten im Nahbereich. Eben noch saß Alice auf der Bank und hat in das langweilige Buch ihrer Schwester hineingelinst, schon ist sie in die Heldin eines aufregenden Buches verwandelt. Der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz, geboren 1982 in Graz, gehört zu den interessantesten Autoren dieses Typs von Abenteuerliteratur. Man merkt es seinen Romanen, Erzählungen und Essays, etwa dem Roman "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" (2015) an, dass nur wenige Mausklicks entfernt von seinen Textdateien die Computerspiele locken, die Clips und Videos auf Youtube, die entlegenen Blogs und Websites der digitalen Universalbibliothek. In diesen rabbit holes verschwindet er für kurze oder längere Zeit und wenn er zurückkehrt, hat er meist etwas zu erzählen. Nie hat er dabei einen Zauberhut auf, aber ohne Zweifel ist er ein Sprachmagier. Woran man ihn erkennt? An seinen Obsessionen.

In seinem neuen Buch "Die Bienen und das Unsichtbare" erzählt Setz eine Anekdote aus seiner Kindheit. Bei den Familienausflügen in die Gegend um den Steinberg westlich von Graz warfen die hohen Felswände ein deutliches, klares Echo zurück. Dieses Echo hatte es dem Jungen angetan. Es war aber zu Hause nicht zu finden. Weder half es, die Schlafzimmerwände anzubrüllen, noch, vom Balkon hinabzuschreien. "Nicht einmal im Keller hallte mir, trotz der dort um so viel höheren Gespensterdichte, meine eigene Stimme entgegen. Also wählte ich einen bestimmten Gegenstand, es war, glaube ich, ein Teil eines Lampions, und nannte ihn ,Echo'." Das Papierlampionstück trug seinen Namen zu Unrecht. Aber es gab der Sehnsucht ein Gegenüber und eine Form, es nährte eine der Wurzeln seiner Autorschaft. "Ich wollte einfach nicht ohne Echo sein."

Rainer Maria Rilke wahrscheinlich auch nicht. Er wird häufig zitiert. Zitate sind literaturimmanente Echos. Am 13. November 1925 schrieb Rilke an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz: "Wir sind die Bienen des Unsichtbaren." Clemens Setz gibt dem Satz, den er im Titel seines Buches zitiert, eine besondere Wendung: "Ist das nicht auch die beste Definition von Dichtern in erfundenen Sprachen? Sie bringen Ertrag und Nährstoffe von einer Quelle, die sonst kaum jemand sehen kann."

Dichter in erfundenen Sprachen bringen Ertrag von Quellen, die sonst kaum einer sehen kann

Die Kunstsprachen, auch Plansprachen genannt, sind in diesem Buch das Abenteuer gleich um die Ecke. Schon immer ist Clemens Setz, so wie früher die Ritter in die Welt auszogen, in die Sprachwelten ausgezogen. Nun hat er Volapük, Klingonisch, Lojban, Blissymbolics, Esperanto und ihre näheren und ferneren Verwandten besucht, ganz oder teilweise erlernt. Er nimmt sie gegen ihre Verächter in Schutz, erzählt von ihren Gründerfiguren und native speakern, übersetzt ihre Literatur, vor allem die Gedichte, aber auch die Prosa, und nicht zuletzt erzählt er von sich selbst.

"In Czernowitz, am östlichen Rand des Österreichisch-Ungarischen Reichs, wurde im Jahr 1897 Karl Kasiel Blitz geboren. Im selben Jahr erhielt die Stadt ihre erste Straßenbahn." Im Stil einer klassischen historischen Erzählung beginnt das Kapitel "Die schwer verfilmbare Geschichte des Mr. Bliss". Es fasst Karl Blitz ins Auge, lange bevor er die "Blissysomblics" erfindet, seine "Semantography", eine nur aus aufgezeichneten Symbolen bestehende, von den Lauten ganz abgekoppelte Sprache. Es zeigt ihn als Kind, das zur Zielscheibe der antisemitischen "Hep!-Hep!"-Parolen wird, folgt ihm in einen Lichtbildervortrag des Nordpolreisenden Julius Payer, durch sein Leben in den Zwanzigerjahren und Dreißigerjahren als Chemiker und dann Regisseur, der künstlerische Filme dreht, bis 1938 nach dem "Anschluss" Österreichs, die Juden vertrieben oder, wie Karl, deportiert werden. Und während Karl die Flucht nach England gelingt und er dort seinen Namen "Blitz", der nach Bombardierung klingt, in "Bliss" ändert, lässt die Erzählung anklingen, dass es zwischen den blechern schallenden Lautsprechern, die Karl in Buchenwald erlebt hat, und der Grundfrage, aus der seine Symbolschrift hervorging, einen Zusammenhang geben könne: "War der Mensch dazu verurteilt, allein weil er einen Mund besaß, eine Sprache mit klanglicher Oberfläche zu verwenden? Oder konnte man so etwas wie Sinn auch ,direkt' übertragen, ohne Umweg über die Stimmlaute?"

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Der von Clemens Setz erzählte Charles Bliss misstraut der Lautsprache, hält sie für leicht korrumpierbar durch Macht und Gewalt. Und er hat eine Lösung für das Problem der Sprachvereinsamung, das Clemens Setz als Neunjähriger im "Hirtenkloster" im Norden von Graz erlebt hat, als er in einem Heim für mehrfach behinderte Kinder einem Jungen begegnete, der mit einem teleskopartigen Zeigestock, der ihm auf die Stirn geschnallt war, auf kleine Quadrate mit Symbolen zeigte. Das war die Erstbegegnung des Autors mit den "Blissymbolics". In "Die Bienen und das Unsichtbare" zeichnet er die Lebenswege von Charles Bliss und seiner Frau Claire nach, stellt Lehrerinnen für Kinder mit Zerebralparese vor, und macht, was als historischer Roman begann, zu einem ganz eigenen Typ von erzählendem Sachbuch. Es stellt seine Gegenstände unter einem besonderen perspektivischen Einfallswinkel dar. Setz interessiert sich, auch im Blick auf sich selber, für den Zusammenhang von Kunstsprache und Lebenskrisen. Im Reißbretthaften, Ausgetüftelten der Plansprachen sucht und findet er Ausdrucksnot und Sprachnot, Versehrungen, aber auch hochfahrende Utopien. "Plansprachen sind immer Autobiografien", das ist die Formel für das erzählende Sachbuch.

Kann man so etwas wie Sinn ohne Umweg über die Stimmlaute übertragen?

Im Kapitel "Mein Sommer im Volapük" wird es zur Autofiktion. Die Erkundung der Sprache, die der Pfarrer Johann Martin Schleyer 1879 erfunden hat, spiegelt sich im Tagebuch des Autors Clemens Setz aus dem Frühjahr und Sommer 2015 oder dem, was er als sein Tagebuch abdruckt, und den Kommentaren, die er im Rückblick hinzufügt. "Schwer depressiv", "autoimmunkrank", "vereinsamt und anschlusslos" wird er zum Musterbeispiel des Zusammenhangs von Lebenskrise und Plansprachenobsession. Was ihn fasziniert, ist weniger die Grammatik als die Lexik, der Wortschatz. Er leidet an der Autoimmunkrankheit eines Sprachvirtuosen. Volapük ist sein Antidepressivum. Das Lernen fällt ihm nicht leicht, aber er freut sich sehr darüber, dass auf Volapük "Lol" das Wort für "Rose" ist und die Wochentage "so super" sind: "mudel tudel vedel dödel fridel zädel sudel. Heute ist dödel."

Hier wird der zweite Hauptstrang des Buches greifbar. Er handelt von den Plansprachen als Inspirationsquellen der Poesie, insbesondere der Nonsens-Poesie. Zu den Protagonisten zählen der österreichische Schriftsteller H.C. Artmann und der französische Philosoph Jacques Derrida, der amerikanische Science-Fiction-Autor Philip K. Dick, der Südtiroler Oswald Egger, die in Polen geborene deutsche Übersetzerin und Dichterin Dagmara Kraus, Oskar Pastior, den es aus dem rumänischen Siebenbürgen nach Deutschland verschlagen hat. Setz steigt in die Nachlassbibliothek Artmanns hinab, um der Grammatik seiner erfundenen Sprachen, zumal des Piktischen auf den Grund zu kommen. Er reist zu Sprachinseln in den Regionen des Nicht-Kommunikativen, hat Friedrich Schlegels Essay zur Verteidigung der Unverständlichkeit und eine seiner Lebensformeln im Gepäck: "Man braucht Undeutbares in sich, sonst ist man gar nichts."

Mehr und mehr tritt die heimliche Hauptfigur des Buches in den Vordergrund, der Übersetzer Clemens Setz, der von all den Kunstsprachen, in die er eintaucht, immer noch nicht genug hat, die Google-Übersetzungsmaschine heißlaufen lässt, mit Hölderlins "Hälfte des Lebens" und Goethes "Über allen Wipfeln ist Ruh" füttert und überdies ihre nicht-intentionale Poesieproduktion protokolliert. In keiner der Sprachen, die er besucht, kann oder mag Clemens Setz selber dichten. Aber als der Übersetzer ihrer Poesie läuft er zu Hochform auf, so in der Passage über die seit den Achtzigerjahren erfundene Sprache Lojban: "Für den Neuling - oh großes Verhängnis! - / ist die Limerickform ein Gefängnis. / Es sind nur fünf Zeilen / man muss sich beeilen / und kommt echt in Reimwort-Bedrängnis."

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Wie Oliver Sacks, einer seiner Lieblingsautoren, neurologische Fallgeschichten erzählte, so erzählt Setz Fallgeschichten zur sprachlichen Unsinnsproduktion: über die Untertitel, mit denen eine Übersetzungssoftware die Nobelpreisrede Peter Handkes versah, über den Gebärdendolmetscher, der für die Gehörlosen die Reden bei der Trauerfeier für Nelson Mandela ins Sinnlose übertrug, über Elisabeth Mann Borgese, die jüngste Tochter Thomas Manns, und die Gedichte ihres Setters Arli.

Esperanto ist mit beliebig erweiterbarem Wortschatz offen für jede Art von "Fan Fiction"

Clemens Setz ist religiös unmusikalisch. Das zeigt sich, wenn er über das Zungenreden schreibt, die Glossolalie des religiösen Enthusiasmus. Die "Summa Theologica" des Thomas von Aquin betrachtete er wie die Gottnähe des sinnlosen Silbensprechens, die darin erläutert wird, mit Verwunderung. Der mittelalterliche Gelehrte ist für ihn "ein Bot avant la lettre", "die mnemonisch perfektionierte Volltextsuche", eine Maschine, die ihre Belegstellen nach vorgegebenen Algorithmen verknüpft. Es ist kein Wunder, dass in diesem Buch die Unterscheidung von Päpsten und Programmieren das dritte Leitmotiv ist, neben der Nähe der Kunstsprachen zu Lebenskrisen und ihrem Potenzial als Reservoir von Nonsens-Poesie. Zu den Päpsten gehören Charles Bliss und der Volapük-Erfinder Johann Martin Schleyer, die sich als Erfinder mit Patentrechten verstehen und als Urheber über ihre Sprachen wachen.

Der vorbildliche Programmierer ist der Augenarzt Ludwik Zamenhof, der Esperanto als "open source" mit beliebig erweiterbarem Wortschatz erfand, offen für jede Art von "Fan-Fiction". Im Esperanto findet Setz das ihm gemäße Gegenüber, ausdrücklich nicht in geschlossenen Fantasy-Sprachen wie dem Quenya aus der Mythologie von Tolkiens "Herr der Ringe": "Man bewegt sich, sobald man massenweise neues Vokabular erfindet, aus der Geborgenheit von Mittelerde hinaus. Dagegen bewegt man sich, je mehr neues Esperanto-Vokabular man erfindet, immer weiter und sattelfester in Esperantujo hinein."

Die längste Erzählung in diesem Buch ist denn auch die romanhafte Rekonstruktion der Lebensgeschichte des russischen Esperanto-Dichters Vasilij Eroschenko, der im Alter von vier Jahren erblindete. Es ist eine Jahrhundertgeschichte, die nach China und Japan führt, in die Welt der Anarchisten und Bolschewisten, der Repression gegen Esperanto im nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion. Und am Ende steht der erzwungenen nomadischen Existenz Vasilij Eroschenkos das Sprachnomadentum des Esperanto-Übersetzers Clemens Setz gegenüber. Wer Abenteuerliteratur mag, ist mit diesem Buch sehr gut bedient.

Clemens J. Setz: Die Bienen und das Unsichtbare. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 414 Seiten, 24 Euro.

© SZ vom 14.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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