Italienische Literatur:Triest und die Welt

Claudio Magris war vier Jahre alt, als die Deutschen seine Geburtsstadt Triest besetzten. Jetzt wird der literarische Geschichtsschreiber Mitteleuropas achtzig und legt eine Sammlung von "Schnappschüssen" vor.

Von Lothar Müller

Als seine Geburtsstadt Triest im Sommer 1943 von den Deutschen besetzt wurde, war der italienische Schriftsteller Claudio Magris vier Jahre alt. In seinem jüngsten Roman "Verfahren eingestellt" (dt. 2017) stand die stillgelegte Reisfabrik im Mittelpunkt, in der damals ein Konzentrationslager eingerichtet wurde, samt mobilen Gaskammern und einem Krematorium. Nach dem Krieg war von dieser Todesmaschine und ihren Kollaborateuren aus den besten Kreisen der Gesellschaft Triests kaum mehr die Rede. Im Roman kehrten sie und die "Risiera San Sabba" wieder, halb dokumentarisch, halb fantastisch kostümiert.

Den 80. Geburtstag von Claudio Magris an diesem Mittwoch feiert die Tageszeitung Corriere delle Sera mit einer Sonderedition einer Reihe von Werken ihres langjährigen Mitarbeiters, darunter auch "Verfahren eingestellt". Das Buch "Donau" (1986), die "Biografie eines Flusses", macht in dieser Woche den Auftakt. Es erinnert an das erste große Projekt dieses Autors, die Rekonstruktion der mitteleuropäischen Welt, die in der politischen Ordnung nach 1945 zerbrochen war, als Kulturraum. Als junger Mann schrieb Claudio Magris sein Standardwerk "Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur" (1963).

An den Kaffeehausliteraten, über die er schrieb, nahm sich der junge Mann aus Triest ein Beispiel. Er las die Zeitungen nicht nur, er schrieb für sie, vor allem für die "Terza pagina" des Mailänder Corriere, und Turin, wo er rasch eine Professur erhielt, war mit seinen Verlagen, seiner industriellen Prägung und seiner Tradition als Hauptstadt der italienischen Arbeiterbewegung ein Gegenpol zu Triest, der Aussichtsstation auf das untergegangene Mitteleuropa. Das Standardwerk eines Akademikers in den Geisteswissenschaften ist meist ziemlich dick, Zeitungen sind Schulen der kleinen Form. Ein ganzes Regal schmaler Bücher hat Claudio Magris - darin ähnelt er Umberto Eco - inzwischen seiner Neigung zur kleinen Form abgewonnen. "Schnappschüsse" heißt die gerade auf Deutsch erschienene Sammlung von Texten der Jahre von 1999 bis 2016. Der Titel ist Programm, das Motto Salvatore Battaglias Eintrag "Istantanea" im "Wörterbuch der italienischen Sprache": " ... mit einer kurzen Belichtungszeit aufgenommen und ohne Verwendung einer Stütze".

Es ist selten angeraten, den Absichtserklärungen von Autoren vorbehaltlos zu trauen. So auch hier. "Schnappschuss" suggeriert Unmittelbarkeit und Vorrang der Wahrnehmung vor der Reflexion. Wenn aber Magris an einem seiner Lieblingsorte in Triest jenseits des Café San Marco, dem schmalen felsigen Strand der "Riviera von Barcola" ältere und junge Paare beobachtet oder Halbwüchsige, die ein Mädchen belästigen, wenn er in New York mit dem aus Triest stammenden Galeristen Leo Castelli zusammensitzt, in Moskau das Denkmal eines streunenden Hundes betrachtet oder mit einem Gastwirt, der den Zweiten Weltkrieg auf dem Balkan erlebt hat, über Serbien 1999 spricht, dann sind die Wahrnehmungen nur Sprungbrett für die Reflexionen des Intellektuellen.

Geschriebene Schnappschüsse können Unmittelbarkeit nur fingieren. Man kann daher dieses schmale Buch ebenso gut als Selbstporträt seines kosmopolitischen, allen Selbstentblößungen abholden Autors lesen wie als Auskunft über die Welt.

Claudio Magris: Schnappschüsse. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend. Carl Hanser Verlag, München 2019. 192 Seiten, 20 Euro.

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