Süddeutsche Zeitung

Architekturgeschichte:Unter Betonplattenhimmel

Die Achtzigerjahre-Party der Architektur: Endlich schaut mal ein Buch in aller Sachlichkeit nach den sonderbaren Produkten der West-Berliner IBA von 1987.

Von Peter Richter

Es gibt in Berlin, Westteil der Stadt, eine Sorte von Häusern, an denen Passanten oft in ähnlicher Weise vorbeigehen wie an bettelnden Punks, also zügigen Schritts und gemischter Gewissenslage. Die sehen schließlich mit Absicht so wenig einnehmend aus - so schroff, so abweisend, so kahl und mit kleinen, übernächtigten Augen tot in den Verkehr starrend. Und trotzdem changiert dieser Auftritt halt immer zwischen sozialrealistischer Tatsächlichkeit und kulturell bedeutungsvoller Pose. Der bautechnische Fachbegriff für die toten Augen lautet quadratisches Verbundfenster. Der Hintergrund für alles andere ist die Internationale Bauausstellung von 1987 (IBA), die West-Berlin in den Achtzigerjahren zur Bundeshauptstadt der architektonischen Postmoderne werden ließ, allerdings in der Regel zu den Bedingungen des sozialen Wohnungsbaus, was wiederum die oft allenfalls als invertiert zu beschreibende Opulenz vieler Fassaden zur Folge hatte, die ernüchternde Materialität von rauem Putz, Kunststoff und kargem Aluminium.

Die städtebauliche Leistung lag in der Rückkehr zu Straße, Block und Hof

Es hat sich eingebürgert, die Architektur der Postmoderne als PoMo zu bezeichnen, als sei das eine der zackig quietschenden New-Wave-Bands der Achtziger gewesen, gleichen doch auch ihre Hervorbringungen oft den Frisuren mutiger Jugendlicher jener Jahre. Deswegen ist es aber auch so beklemmend, sie heute immer noch in den Straßen stehen zu sehen, gealtert, grau geworden und mit Wetterschlieren, die wie verlaufener Kajal unter den leergeweinten Fensterchen hängen.

An so einem Punkt ihres Lebens angekommen laufen Gebäude einer bestimmten Epoche gewöhnlich Gefahr, entweder in mehr oder weniger ernst gemeinte Abrisskataloge aufgenommen zu werden oder einer unkritischen Bewunderung aus dem Geist von "Camp" und popkulturellem Trotz anheimzufallen. Der Band "Postmodern Berlin - Wohnbauten der 80er Jahre" von Claudia Kromrei ist auch deshalb einer der anregendsten Architekturtitel dieses Winters, weil er souverän zwischen diesen beiden Sirenenfelsen hindurchmanövriert.

Kromreis Texte zu dreißig ausgewählten Bauten analysieren in aller Sachlichkeit jeweils den Befund vor dem Hintergrund der theoretischen Absichten und der praktischen Genese, sie benennen das, was dabei die Leistung ist, erwähnen aber eben auch, was damals schon fragwürdig war. Dazu stehen Fotos von Thomas Bomm und Manfred Hamm, die diese Häuser nach mehr als dreißig Jahren im Gebrauch abbilden, nicht als Versprechen wie im Rendering; keine Hochsommersonne beschönigt die Dinge, kein Schneeregen denunziert sie, stattdessen: neutraler Berliner Betonplattenhimmel dahinter und ruhender Alltag in Form von Fahrradständern, gestutzten Hecken und parkenden Autos davor. Aufschlussreich sind außerdem die Grundrisse von diesen oft sehr explizit auf ihre Fassaden beziehungsweise Nichtfassaden hin konstruierten Häusern.

Es war vermutlich wirklich an der Zeit, daran zu erinnern, dass diese seinerzeit viel beachteten, danach ein bisschen mehr als geplant im Berliner Alltagsgrau untergegangenen Bauten sich einer der größten theoretischen und praktischen, politischen und kulturellen Anstrengungen verdankten, die sich West-Berlin in der Zeit seiner Ummauerung geleistet hat. Die IBA war eine Architekturausstellung in dem Sinn, dass hier tatsächlich eine Internationale von besonders theoriestarken Architekten Entwürfe ausstellen durften wie in einem Museum, nur eben im Maßstab 1:1 und aus Stein und Beton. Gleichzeitig sollte die IBA dem strategischen Ziel der Stadtreparatur dienen.

Das urbane Gefüge Berlins war durch Krieg und Wiederaufbau-Moderne zusehends "kariös" geworden, wie der große Berlin-Kenner und -liebhaber Hanns Zischler im Nachwort schreibt. Er macht dabei geltend, dass das Hansaviertel, das während einer früheren Bauausstellung 1957 auf dem Grund eines ehemals dicht bebauten Altbauviertels im Tiergarten entstand, "architektonisch ebenso überzeugend wie städtebaulich irreführend war".

Mit Kromreis Buch in der Hand könnte man durchaus zu dem Ergebnis kommen, dass es sich mit den Produkten der IBA 1987 erstaunlich oft genau andersherum verhielt. Die städtebauliche Leistung lag in der konsequenten Rückkehr zu Straße, Block und all den intelligenten Formen der Hofbildung, die die Stadt auch vor dem Ersten Weltkrieg schon kannte. Der Phantomschmerz, den Wolf Jobst Siedler in seinem berühmten "Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum" formuliert hatte, fand hier zumindest bezogen auf Straße und Platz eine Art Verbandskasten.

Die "Stadtvillen" waren schon damals als architektonischer Zynismus umstritten

Was den mit "Putte" beschriebenen Aspekt betrifft, kippten diese Architekten aber oft eher Betonmischerladungen von Salz in die Wunden. Es hatte daneben ja noch einen Teil der IBA gegeben, der sich um den Erhalt und die Wiederherstellung von Altbauquartieren verdient machte. Demgegenüber markierten die Hervorbringungen der Neubau-IBA oft mit bemerkenswert autoaggressiver Wut die unüberbrückbare Differenz zu dem, was vermittels parodierender Gesten dauernd evoziert, aber nie eingelöst wird. Es sind damals unter beengenden Bedingungen und rigiden Vorgaben durchaus Bauten entstanden, die in ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Selbstverständlichkeit auch heute noch überzeugen, und Kromreis Buch zeigt genügend Beispiele dafür, von Rem Koolhaas und Elia Zenghelis' Grenzstation am Checkpoint Charlie bis zu dem asketischen Würfelhaus von Haus-Rucker-Co. Es zeigt aber auch eine bestürzende Menge gebauter Tragik: Von Wohnhäusern, die eigentlich lieber ein Park oder ein Mahnmal hatten werden wollen (Peter Eisenman), bis zu Bauten, die den Passanten im eben erst so ostentativ wiedergewonnenen Straßenraum arrogant mit dem Hinterteil anschauen (Oswald Mathias Ungers). Es sind gerade die als Theoretiker bedeutenderen Architekten, die in Berlin mit Gebäuden befremden, die man ihnen nicht unbedingt gewünscht hätte. Ungers war ein so legendärer Lehrer, Portoghesi ein dermaßen grandioser Kunsthistoriker, dass man ihre Berliner IBA-Bauten lieber ignorieren würde; aber sie gehören nun einmal dazu, und es hat ja niemand gesagt, dass gute Architekturbücher zwingend auch gute Architektur zeigen müssen. Was dieses nämlich in deprimierendem Ausmaß auch zeigt, ist schlicht Blech, das Säulen, Architrave, Simse vorgaukeln soll wie ein Pantomime, der gar keine Lust dazu hat, weil er selbst am besten weiß, wie lausig er ist. Die sogenannten Stadtvillen, die besonders davon überwuchert sind, waren damals schon als typologisches Oxymoron und architektonischer Zynismus umstritten, wie Kromrei darlegt. Aber die Begeisterung der Immobilienentwickler gerade daran hält sich bis heute. Es sind, leider, ausgerechnet diese Dinge, die am folgenreichsten waren.

"Und dann fiel die Mauer", der letzte Satz des Buches hat in architekturgeschichtlichem Zusammenhang ähnliche Qualitäten wie das Ende eines Horrorfilms, bei dem die Entwickler tückischer Monster aus Versehen die Bürotür offenstehen lassen. Was in den Jahren danach dann nämlich aus kalter, böser, kulturloser Gier an solchen "Stadtvillen" nach Berliner IBA-Vorbild in Viertel wie Dresden-Blasewitz und ähnlichen auf die Grundstücke echter Gründerzeit-Villen (und diese durch aufdringliche Nachbarschaft nachhaltig ruinierend) geklatscht, gepresst und hingehunzt wurde, gehört zumindest mittelbar auch zum Thema dieses Buches, wäre aber schon wieder Stoff für ein eigenes.

Claudia Kromrei: Postmodern Berlin. Wohnbauten der 80er Jahre. Niggli Verlagt, Salenstein 2018. 176 Seiten, 97 Abbildungen, 49,90 Euro.

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Quelle:
SZ vom 19.12.2018
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