Süddeutsche Zeitung

Claude Chabrol zum 80.:Harmonisches Unglück

Die bürgerliche Fassade überdeckt die Gier - und es geht nur darum, sich nicht erwischen zu lassen: Mit Sinn fürs Perverse und Zuneigung zu höflichen Monstern schrieb Claude Chabrol Filmgeschichte.

Susan Vahabzadeh

In den Petit Robert hat es das Adjektiv "chabrolesk" leider noch nicht geschafft, aber es zirkuliert kräftig, und das seit Jahren und Jahrzehnten - das kann man sehen, wenn man ausprobiert, was passiert, flicht man chabrolesk beiläufig ein in eine Unterhaltung mit Claude Chabrol: nichts. Er zuckt nicht mal mit der Wimper.

Er hat natürlich recht, und man kann relativ klar definieren, was das ist, chabrolesk, so homogen ist das Werk, das Chabrol in fünf Kinojahrzehnten geschaffen hat. Er hat den Prozess der Wahrnehmung auf ganz eigene Art in seinen Einstellungen mitvollzogen, manche seiner Bilder entstehen erst im Zuschauen und vollenden muss man sie im Kopf. Die Schlussszene in "Die untreue Frau" (1969) hat er so gemacht - Polizisten kommen, um den Ehemann festzunehmen für den Mord am Geliebten seiner Frau und die, Stéphane Audran, sieht zu, wie er verhaftet wird.

Ständige Bewegung

Das manifestiert sich sozusagen vor unseren Augen, aus der Ferne, im Garten ihres Hauses. Hitchcock war der Held unter den amerikanischen Regisseuren, die die jungen französischen Cineasten Chabrol, Truffaut, Godard verehrten, als sie anfingen bei den Cahiers du cinéma, und man findet ihn wieder in Chabrols Filmen - wie Hitchcock seine Filme aus kleinen Grundmustern zusammensetzte, eine Gruppe von Menschen, ständige Bewegung und Gegenbewegung in Handlung und Kamera, das hat schon den Kritiker Chabrol fasziniert, wie bei Hitchcock Szenen sich spiegeln - die Farbe auf einem Teppich und das Blut eines der Opfer, das einem Kind auf sein Pausenbrot tropft in "Der Schlachter" (1970), oder der Mord an Aal und Mann in "Blutige Hochzeit" (1973), eine perfekte Chabrol-Konstellation: zwei Ehepaare, eine Liebe zwischen Stéphane Audran - damals Madame Chabrol - und Michel Piccoli über Kreuz, zwei Gattenmorde, dazu eines seiner Lieblingsmotive - Korruption.

Claude Chabrol, am 24. Juni 1930 als Sohn eines Apothekers in Paris geboren, hat schon als Kind einen Filmclub in einer Garage gegründet. Er begann Literaturwissenschaft an der Sorbonne zu studieren, versuchte sich dann an Jura, und, den Eltern zuliebe, an Pharmazeutik.

Aber seine Bestimmung fand er in einer Clique um den Filmkritiker André Bazin. Er begann 1953 für die Cahiers du Cinéma zu schreiben - für Chabrol nur eine Episode, aber er schrieb besonders gern über Hitchcock. Chabrol hat, ein wenig intensiver noch als die Nouvelle-Vagueaner, die damals aus den Cahiers hervorgingen, die Liebe zu Hitch konsequent in Filme umgesetzt - mit Eric Rohmer hatte er zuvor das erste Buch über Hitchcock geschrieben. Seinen ersten langen Film "Le beau Serge" drehte er schon 1958, mit dem und nicht mit Godards "Außer Atem", 1960, hat die Nouvelle Vague begonnen. Mit dem zweiten Film, "Schrei, wenn du kannst" gewann Chabrol 1959 den Goldenen Bären bei der Berlinale.

Chabrol, der Pathologe des schönen Scheins, betrieb den Krimi als soziologische Studie, was er machte, war das Gegenteil von "CSI" - es ging ihm nie um technische Fragen, sondern um menschliches Verhalten unter Druck, darum, wie wir in der Logik unserer Umwelt - oder eben eines Krimiplots - gefangen sind und danach handeln. Und anhand des Kriminalfalls sezierte er dann lustvoll das französische Bürgertum... Es ist ein fieser kleiner Kommentar zur Bourgeoisie, wenn sich Audran/Piccoli, das auf Freiheit versessene Paar in "Blutige Hochzeit", für eine Liebesnacht in einem Schloss einschließen lassen. Fürchterlich ist die Familie, gegen die Sandrine Bonnaire und Isabelle Huppert in "Biester" (1995) revoltieren, oder der Clan von Nathalie Baye, den sie in Bedrängnis bringt, als sie fürs Bürgermeisteramt kandidiert in "Die Blume des Bösen" (2003) - weswegen dann alle düsteren Geheimnisse ihrer Lieben ans Licht gezerrt werden.

Der Anschein von Idylle

Eine perfekte Idylle, in die am Ende von "Die untreue Frau" die Polizisten einbrechen, "c'est la douceur", die Sanftheit, beschrieb Claude Chabrol die Szenerie im seinem Drehbuch, "l'harmonie definitive". Es ist der Anschein von Idylle, der Chabrol fasziniert - die Obsession seiner Figuren mit vollkommenen Oberflächen, die die Gier und die Selbstsucht überdecken; die formale Perfektion einer bürgerlichen Fassade, die an die Stelle einer Moral getreten ist.

Es geht nie darum, etwas nicht getan zu haben, sondern nur darum, sich nicht dabei erwischen zu lassen. Unmenschliche Geschichten, ein einfacher Ausweg ins Affirmative, fand Fassbinder, aber manches, was er böse über Chabrol schrieb, stimmt doch: "Chabrols Blick ist nicht der eines Insektenforschers, wie oft behauptet wird, sondern der eines Kindes, das eine Anzahl von Insekten in einem Glaskäfig hält und abwechselnd staunend, erschrocken oder lustvoll die merkwürdigen Verhaltensweisen seiner Tierchen betrachtet."

Chabrol hat einen Sinn fürs Perverse - davon leben diese Geschichten, von der Zuneigung zu den sympathischen Monstern, die er geschaffen hat, dem Verständnis für die verdrehte Logik seiner Mörder. Man könnte den Sinn fürs Perverse auch daran festmachen, dass Chabrol "Derrick" liebt - was auch einen verdrehten Sinn ergibt, und doch skurril bleibt.

Nur selten ist Chabrol geradeaus auf die Tagespolitik losgegangen, aber er hat sich dann doch einige Male an ihr versucht. "Geheime Staatsaffären" (2006), im Original treffender "L'ivresse de pouvoir" betitelt, Trunkenheit von der Macht, mit Isabelle Huppert, seiner Lieblingshauptdarstellerin, seit er sie in den Siebzigern entdeckt und berühmt gemacht hat, als Staatsanwältin, die mit großer Lust ihre Beute jagt, ein paar korrupte Konzernmanager und Politiker, orientierte sich am Elf-Aquitaine-Skandal, der Frankreich in den Neunzigern erschüttert hatte.

Und in "Eine Frauensache" (1988) spielte Huppert eine Engelmacherin während des Zweiten Weltkriegs, es wird ein Exempel an ihr statuiert - eine Geschichte, die, als der Film ins Kino kam, immer noch provokant war, und vor allem provokant erzählt - es gab damals einen Anschlag auf ein Kino in Paris, das "Eine Frauensache" zeigte.

Ein Workaholic

"Schöpferische Krisen hatte ich noch nie", sagt Chabrol. "Und meine Frau - sie kennt mich seit dreißig Jahren - weiß inzwischen, dass sie darauf achten muss, dass ich mich nicht zu sehr zurückziehe. Das wäre auch unerträglich für sie." An die siebzig Filme hat Chabrol gedreht, der letzte Kinofilm - "Bellamy", mit Gérard Depardieu als Kommissar - kam im vergangenen Jahr ins Kino, und man möchte hoffen, dass er auch mit achtzig noch weitermacht. Chabrol ist der Chef eines kleinen Familienunternehmens - seine dritte Frau Aurore ist meistens Teil des Teams und seine Söhne, aber auch der Rest der Crew ist Familie:

"Ich mag das, diese Kontinuität - mit denselben Akteuren zu arbeiten, mit denselben Technikern. Da wären wir beim Familienprinzip. Irgendwie begreift man da schneller. Ich glaube an die Harmonie beim schöpferischen Akt - und die stellt sich eben leichter ein bei Leuten, mit denen man schon mal gearbeitet hat."

Ein Workaholic, er hat sogar zwischendrin schnell noch ein paar Fernsehfilme gedreht - Fantômas und Maigret, und insgesamt waren es so viele Filme, dass man, selbst wenn man nicht alle gesehen hat, anfängt zu glauben, man käme selbst nach Hause in diese französische Provinz, mit dem Bruder von "Bellamy" oder dem Sohn in "Die Blume des Bösen"... Ein seltsames Beklemmungsgefühl lösen diese Szenen aus - man hat längst begonnen, sich zu Hause zu fühlen unter Chabrols höflichen Monstern, hinter seinen bürgerlichen Fassaden, man glaubt, sie zu kennen. Und dann schleicht sich der Schrecken in unser Inneres, wir finden seine Geschichten wieder in uns selbst - diese Spiegelung im Publikum würde Chabrol gefallen. Er liebt Doppelungen.

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Quelle:
SZ vom 24.06.2010/luc
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